Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Marie Eugenie delle Grazie, Jena, 30. Dezember 1896

Jena 30.12.1896. Abends!

Diese flüchtigen Zeilen sind kein Brief, liebes hochverehrtes Fräulein! (‒ Einen solchen darf ich Ihnen ja, meinem strengen Mönchs-Gelübde gemäß, erst im nächsten Monat wieder schreiben) – es sind nur Ergänzungs-Worte des Dankes zu dem feierlichen officiellen Neujahrswunsche, den Ihnen heute Morgen die Postkarte aus unserem „Paradiese“ bringen sollte. 50 Schritte oberhalb des linken Saalufers, welches das Bildchen links zeigt, liegt mein Zoologisches Institut, und von meinem Arbeitszimmer habe ich den schönsten Blick auf Fluß und Berge. ||

Eine Stunde nachdem ich die Post-Karte geschrieben, fand ich zu Hause Ihren lieben Brief vor. Welche Freude! Ich weiß nun doch, daß die luftigen „Gedankenschiffchen“, welche meine Phantasie so oft von Jena nach Wien abgehen läßt, nicht allein die hohe Wasserscheide zwischen Elbe und Donau glücklich überfliegen, sondern dort auch anderen Gedankenschiffchen begegnen, die von der glänzenden Kaiserstadt an der Donau zu dem kleinen „Universitäts-Dorfe“ an der Saale segeln! ||

Wie Schade, daß das Wasser zwischen beiden Orten „gar zutief“ ist! ich hätte Ihnen so Vieles über Ihre neueste großartige Dichtung, das so wahre „Satyrspiel“ vor der (sicher nahenden! ‒) Tragoedie zu sagen; und wie oft möchte ich mit Ihnen über Ihre herrlichen Gedichte plaudern, deren (oft wiederholte!) Lectüre diesmal meine liebste Weihnachtsunterhaltung war. Aber Papier und Feder sind ein elendes Medium für solche Unterhaltungen! ||

Vielleicht führt uns doch das Glück 1897 irgendwo wieder zusammen. Ich hoffe dieses Jahr ziemlich viel auf der Wanderschaft zu sein. Anfang Februar gehe ich mit Frau u. Tochter (denen es jetzt etwas besser geht) nach der Riviera (San Remo?). Dann reise ich allein auf 6 Wochen nach Messina, um in meiner alten lebendigen Märchen-Welt, dem pelagischen Gewimmel der durchsichtigen „Glasthierchen“, neuen Muth u. Arbeitskraft zu schöpfen. Wie herrlich, wenn ich Ihnen diese wahren „Meerwunder“ zeigen könnte! –

Mit wiederholtem bestem Glückwunsche

Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel.

Auch an Herrn Prof. Müllner freundlichen Gruß u. Neujahrswunsch.a ||

P. S. Eigentlich, um die Wahrheit zu gestehen, hatte ich in dieser Weihnachtswoche noch auf eine besondere Freude gehofft, nämlich auf Ihr liebes Bild, das Sie mir in Ihrem vorletzten Briefe versprochen! Schicken Sie mir es ja „eingeschrieben“! Mit dem letzten Bilde (vor der neuen Ausgabe der Gedichte) bin ich nicht zufrieden.

Mit dem früheren dagegen treibe ich eine Art „Madonnen-Cultus“ ( wahrscheinlich die Nachwirkung des Salzburger Katholiken-Tages am 3/4 September!) ||

‒ Habe ich Ihnen die Mappe mit 50 Tafeln Siphonophoren schon geschickt?

‒ Für die Herbstreise habe ich eine Einladung nach dem Kaukasus! Und da das heilige Russland das einzige Land Europa’s ist, das ich noch nicht betreten habe, werde ich ihr vielleicht folgen. Andernfalls könnte mich ein Ausflug an meinen (besonders geliebten!) Garda-See mächtig reizen!

Vedremo!

Inzwischen ein hoffnungsvolles A Riveder’ci!

Ihr treuer alter

E. H.

a weiter am Rand v. S. 4: Auch an … Neujahrswunsch.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
30.12.1896
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Wien
Besitzende Institution
Wienbibliothek, NL Marie Eugenie Delle Grazie
Signatur
H.I.N. 90684
ID
40871