Ernst Haeckel an Marie Eugenie delle Grazie, Jena, 25. November 1896
Jena 25. Novb. 1896.
Hochverehrtes liebes Fräulein!
Zur Strafe für Ihren bösen Verdacht, daß ich jemals Ihnen einen von den berüchtigten blauen Entschuldigungs-Bogen senden könnte, schicke ich Ihnen nun wirklich ein solches Instrument mit! Zum Glück ist es an einen unbekannten „Hochgeehrten Herren“! adressirt; Sie dürfen es also nicht auf sich beziehen und können es als „apokryphes Autogramm“ irgendwie verwenden. – Gleichzeitig sende ich Ihnen zur Durchsicht einen Brief meines Prager Collegen Hatschek (– den ich gelegentlich zurückerbitte –). Er hat danach also wirklich die Stelle unseres „lieben Freundes“ Claus in Wien bekommen, und Sie werden ihn dort kennen lernen. Ich freue mich darüber aufrichtig, da ich Hatschek || für einen der tüchtigsten Fachgenossen halte, und für einen der wenigen Zoologen, die weitere Gesichtspunkte besitzen. Die fragliche Professur ist übrigens dieselbe, die ich vor 24 Jahren – nach langem Schwanken! – ausgeschlagen habe. Ich habe es oft bereut. Wie anders würde sich mein Leben und mein akademischer Erfolg gestaltet haben, wenn ich die verlockende Berufung (– mit der Triester Station! –) angenommen hätte! Und dann hätte ich ja das Glück gehabt, Sie seit Jahren zu kennen, und von Ihrer schöpferischen Phantasie meine prosaischen Gedankengänge poëtisch befruchtet zu sehen!
– „Behüt Dich Gott!
Es wär’ so schön gewesen!
Behüt Dich Gott,
Es hat nicht sollen sein“!! – ||
– Freilich wären dann wohl schwerlich die langweiligena großen „Challenger“-Arbeiten zu Stande gekommen, mit ihren 230 Tafeln und Figuren von einigen Tausend neuen Thierformen. Sicher wäre auch niemals das dreibändige Ungethüm der „Systematischen Phylogenie“ fertig geworden, mit einigen Hunderten von neuen Entwickelungs-Gedanken. Dieses Monstrum konnte nur in der Klosterzelle des Zoologischen Instituts in Jenab – und während einer 30jährigen Askese! – langsam zur Reife kommen. Hoffentlich habe ich ihm nicht ganz vergeblich die besten Jahre und Kräfte meines Lebens geopfert. Aber leider ist es selbst für Fachleute keine leichte Lectüre und für Laien gänzlich ungenießbar (– ohne Abbildungen! –). ||
‒ Seit einigen Wochen habe ich nun wieder das gewohnte asketische Mönchsleben des einsamen Winter-Semesters begonnen, und quäle mich ab, der neuen (IX.) Auflage der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ wenigstens die nothdürftigsten Verbesserungen und zeitgemäßen Berichtigungen zu geben. – Es ist das an sich eine schauderhafte Arbeit, und mir jetzt um so weniger zusagend, als leider mein häusliches Leben wieder ebenso traurig sich gestaltet, wie im vorigen Winter. Meine arme Frau leidet wieder schwer an beängstigenden Rückfällen des chronischen Herz- und Nerven-Leidens, das sie schon seit mehreren Jahren quält. Da hilft eben Nichts als Geduld und Resignation!
– Hoffentlich geht es Ihnen recht gut.
Mit besten Grüßen, auch an Herrn Prof. Müllner, Ihr getreuer
Ernst Haeckel. ||
Jena. 25. 11. 1896.
Im Begriffe, den Brief abzusenden, hochverehrte Freundin, sehe ich zu meinem Entsetzen, daß ich – als echter Egoist! – Ihnen fast nur von mir und von meinen verfehlten Unternehmungen geschrieben habe – und nicht von meinen Lieblingen, den Radiolarien, Korallen u. anderen Seethieren, die Sie (– mit Recht! –) mehr interessiren. Es hat mich sehr beglückt, daß ich Ihnen durch Übersendung dieser wenigen Präparate eine kleine Freude bereiten konnte. Ich hege nur noch den einen Wunsch, Ihnen diese herrlichen Wunderwerke der Natur einmal lebend am Meere zeigen zu können, mit ihren reizenden Bewegungen und ihrem hochinteressanten primitiven Seelenleben. ||
– Daß Sie das poëtische „Gedenkbuch“ von Strauss interessirt, freut mich besonders; ich habe mit dem edlen, feinsinnigen Märtyrer des freien Gedankens und der Überzeugungstreue immer die innigste Sympathie gehabt. Doppelt beklagenswerth war er durch seine unglückliche Ehe. Was Sie über dies gefährliche „Cap der Stürme“ sagen, ist leider nur zu wahr; auf tausend Nieten kommt wohl kaum ein Gewinn – wenigstens bei unserer jetzigen Scheincultur und Gesellschafts-Lüge! Übrigens sagte ja schon der alte Weise (– Sokrates, glaube ich? –): „Die Entscheidung, ob Du heirathest oder nicht, ist gleichgültig; denn in beiden Fällen wird Dich Dein Entschluß sicher gereuen“! ‒ ||
– Das katholische „Gebet-Buch“, das ich auf dem letzten Photogramm in der Hand habe, drückte mir die „Vorsehung“ in die Hand; es war nämlich das einzige Buch, welches im Atelier des guten Münchener Photographen, des dicken und frommen Herrn Schiessl, existirte!!
‒ Nun verzeihen Sie die aufdringliche Länge dieses Briefes, theure Freundin; es soll gewiß in mehreren Monaten – und sicher im Laufe dieses Jahrs! – kein zweiter folgen. Ich schreibe selbst meinen nächsten und besten Freunden kaum 4-6 mal jährlich.
Mit besten Wünschen und Grüßen
Ihr treu ergebener
E. Hkl.
P. S. Beiliegend mit bestem Dank die reizende Karte von B. v. Carneri zurück!
Verte! ||
P. S.
‒ Haben [!] ich Ihnen schon die Mappe mit 50 Tafeln meiner „Siphonophoren“ des Challenger früher gesandt? Sonst schicke ich sie Ihnen im nächsten Jahre. Sie können Ihnen diese reizendsten aller Geschöpfe einigermaassen veranschaulichen und zugleich den Vortrag über „Arbeitstheilung in Natur und Menschenleben“ illustriren (Nr. IV. der „Gesammelten populären Vorträge“) ||
[Beilage hektographiertes Schreiben:]
Autographirt. Jena
(Datum des Poststempels).
Hochgeehrter Herr!
Indem ich Ihnen für Ihre freundliche Mittheilung danke, muss ich zugleich mein Bedauern aussprechen, Ihnen nicht die gewünschte eingehende Antwort geben zu können. Meine Zeit und meine Arbeitskraft ist durch wissenschaftliche Arbeiten, akademische Pflichten und andere Aufgaben dergestalt in Anspruch genommen, dass es mir bei der übermässig anwachsenden Correspondenz ganz unmöglich wird, alle eingehenden Briefe zu beantworten und alle übersandten Drucksachen zu lesen.
Hochachtungsvoll
Professor Dr. Ernst Haeckel.
a eingef.: langweiligen; b eingef.: Jena