Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Marie Eugenie delle Grazie, Jena, 27. September 1896

Jena 27. Septb. 1896.

Hochverehrtes liebes Fräulein!

Gestern Abend habe ich den letzten Strich am Schluß-Paragraphen (– Nr. 1100. – !!) meiner 3bändigen „Systematischen Phylogenie“ gethan und damit eine Herkules-Arbeit abgeschlossen, die mich eigentlich seit 30 Jahren, in den letzten 6 Jahren fast ausschließlich beschäftigt hat. Bei der großen Schwierigkeit der Aufgabe verzweifelte ich oft daran, den versteckten Pfad durch die große Terra incognita zu finden. Heute habe ich das Gefühl, nach gelungener Durchquerung des neuen Erdtheils zuerst wieder das Meer zu sehen: „Thalatta“!! Und meine Belohnung soll sein, Ihnen dies heute zuerst mittheilen zu dürfen! ||

Leider ist das 3bändige Ungethüm für jeden „Nichtfachmann“ ungenießbar, zumal keine Abbildungen den schwerfälligen Text illustrieren. Auch glaube ich nicht, daß es zunächst viel wirken wird; aber ich habe die Überzeugung, für die Stammesgeschichte der organischen Formen – die ich in der „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ nur in Umrissen andeuten konnte, ein festes wissenschaftliches Fundament gelegt zu haben. Damit wird zugleich unserer Weltanschauung eine sichere empirische Begründung gegeben – und weil ich weiß, wie theuer auch Ihnen diese ist, darf ich Ihnen wohl dieses Gefühl mittheilen. Die Hauptsache sollte eigentlich heute der Dank für Ihre lieben Zeilen sein, die mich hoch erfreut haben, und für die beigefügte poetische Karte unseres lieben Freunds Carneri. || Letztere sende ich Ihnen in einigen Wochen mit den versprochenen Büchern zurück. – Wie ich Ihnen bereits aus München mittheilte, verzögerte sich mein dortiger Aufenthalt um einige Tage. In Ambach, an dem einsamsten Winkel des Starnberger See’s, verlebte ich bei dem genialen Maler Gabriel Max, in Gesellschaft seiner geistreichen Frau, drei sehr interessante Tage (11.-13. Septbr.). Er besitzt eine sehr werthvolle vergleichend-anatomische Sammlung, besonders eine sehr schöne Serie von Affen-Skeletten, welche die ganze Entwickelungs-Reihe von den niederen Affen zu den Anthropoiden und von diesen zum Homo sapiens hinauf, einleuchtend demonstriren; das imponirte ja auch Goethe schon so sehr! Durch diese Studien (und durch meine „Natürliche Schöpfungsgeschichte“) ist Max aus den Tiefen des Mysticismus zum Lichte des Monismus empor gestiegen. ||

Das lebensgroße Öl-Porträt, welches Max in 8 Stunden (in 4 zweistündigen Sitzungen) von mir malte, scheint sehr gelungen zu sein. Bei unseren philosophischen Unterhaltungen während derselben müssen Ihnen und Herrn Professor Müllner die Ohren geklungen haben; so Viel habe ich Ihrer gedacht! Schade daß Sie nicht dabei sein konnten! – Indessen leuchten die wärmenden Sonnenstrahlen, welche mir die „zwei glücklichen Tage“ in Salzburg und Aigen gebracht haben, hier im rauhen Thüringer Walde fort; und ich hoffe, daß sie in meiner einsamen Klosterzelle bei der beginnenden Winter-Arbeit (– der IX. Aufl. der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ –) mir noch oft diesen werthvollen Theil der Tyroler Reise in erfrischende Erinnerung bringen werden.

In der Hoffnung, daß auch Sie bisweilen jener Tage gern gedenken werden, bleibe ich mit freundlichsten Grüßen an Sie und an Herrn Prof. Müllner

Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
27.09.1896
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Wien
Besitzende Institution
Wienbibliothek, NL Marie Eugenie Delle Grazie
Signatur
H.I.N. 90679
ID
40859