Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Marie Eugenie delle Grazie, Jena, 28. Dezember 1895

Jena 28. 12. 1895.

Hochverehrtes Fräulein!

Sie hatten die große Güte, mir als Weihnachtsgabe die neue Auflage Ihrer herrlichen Gedichte zu senden, und ich danke Ihnen dafür herzlich; umso mehr, als das Weihnachtsfest für mich diesmal recht trübe war. Meine arme Frau, deren überaus zarter Organismus mir schon so viel Sorge gemacht hat, ist seit mehreren Monaten wieder recht krank; Anfälle ihres alten Herzleidens flößten uns große Besorgnisse ein. ||

Auch im Übrigen schließe ich dieses Jahr mit recht unerfreulichen Erfahrungen ab. Die Folgen meines schweren Unfalls sind zwar jetzt, nach fünf Monaten, wieder nahezu beseitigt; aber ich hatte in dieser Leidenszeit Muße zum Nachdenken über das große Mißverhältniß zwischen dem von mir Erstrebten und dem wirklich Erreichten. Dazu gesellt sich vielerlei wissenschaftlicher Ärger, Undank von „treuen Schülern“, mancherlei Familien-Sorgen etc. etc. –

Kurz ich mußte froh sein, in meinem „Kloster“, dem Zoologischen Institute, wissenschaftlich Trost zu finden. ||

Daß ich unter diesen Umständen außer Stande war, meinen beabsichtigten Artikel über Ihren wundervollen „Robespierre“ zu schreiben, werden Sie verstehen. Ich fürchte überhaupt, daß ich dazu nicht mehr kommen werde, und bedaure jetzt doch sehr, den ersten (mir damals sehr ungenügend erscheinenden) Entwurf vernichtet zu haben. Übrigens ist jetzt eine besondere Empfehlung meinerseits ganz unnöthig, nach dem das verdiente Lob Ihres großartigen Epos jetzt schon so vielfach und so beredt ausgesprochen worden ist – sogar (zu meinem Erstaunen!) in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung. ||

Aus beifolgender Mittheilung über die „Stammgruppe der Echinodermen“ ersehen Sie, daß auch ich in historischen Studien vergraben bin. Besäße ich ein Wenig von Ihrem herrlichen Dichter-Talent, so möchte ich ein Epos über die merkwürdigen Vorgänge schreiben, durch welche sich jener seltsame Stamm der „Sternthiere“ vor vielen Millionen Jahren im cambrischen „Kampf um’s Dasein“ zu seiner eigenartigen Entwicklung Bahn brach.

Mit besten Wünschen für das kommende Jahr und mit wiederholtem herzlichsten Dank Ihr ergebenster

Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
28.12.1895
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Wien
Besitzende Institution
Wienbibliothek, NL Marie Eugenie Delle Grazie
Signatur
H.I.N. 90671
ID
40854