Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Hermann Allmers, Berlin, 23. Dezember 1862

Berlin, 23.12.1862.

… Am 18ten August nachmittags 5 Uhr standen meine kleine Frau und ich von der Hochzeitstafel auf, um uns ganz kurz von den nächststehenden Lieben zu verabschieden und gleich mit dem Nachtschnellzug der anhaltischen Bahn nach Dresden zu fahren, wo wir abends 11 Uhr glückselig landeten. Die ersten Tage des neuen glückseligen gemeinsamen Lebens, nach dem wir 4½ Jahre so sehnlich gestrebt hatten, schienen uns so herrlich und reizend, als ob wir beide plötzlich ganz andere Menschen geworden seien, und doch kann ich Dir versichern, daß die herrliche Glückssonne, welche uns an jenen Tagen aufgegangen, seitdem mir immer höher und höher gestiegen ist, so daß wir mit jedem neuen Tage uns im gegenseitigen Besitze glücklicher und beneidenswerter erscheinen! Die drei ersten Tage unseres jungen Ehelebens genossen wir in Dresden, die meiste Zeit der Anschauung der herrlichen Bildergalerie widmend, die uns nur dadurch etwas getrübt wurde, daß ich noch die drei letzten Korrekturbogen meines Werkes dort absolvieren mußte. Von Dresden fuhren wir am 21sten August in einem Zuge durch über Hof, Bamberg, Nürnberg nach Regensburg, wo wir auf der Höhe der Walhalla und im Innern sowie auf dem Dache des herrlichen Domes köstliche Stunden verlebten. Von da mit der Bahn nach Passau, dessen reizende Umgebungen wir bei zweitägigem Aufenthalte sehr liebgewonnen haben.

… Da schon am 2ten Tage wieder schönes Wetter kam, fuhren wir gleich nach Salzburg, wo ich in der Vorstadt Mülln im Gasthofe zum Schwan bei der Frau Apollonia Grümpelstetter, genannt Streichhuber eine unvergleichliche Aufnahme fand. In diesem Gasthofe dritter Klasse war ich nämlich als Student mehrere Tage aufs vortrefflichste aufgenommen gewesen und hatte der trefflichen alten Wirtin versprechen müssen, sie auf meiner Hochzeitsreise wieder zu besuchen, obschon ich damals nicht entfernt an Heiraten dachte. Daß ich nun dies Versprechen ausführte, machte der trefflichen Salzburgerin unendliche Freude, und sie verpflegte uns beide wie ihre eigenen Kinder. Wir bewohnten einen eigenen reizenden Pavillon im Garten mit zwei Stuben und wurden in jeder Beziehung mit solcher Auszeichnung behandelt, daß dieser Salzburger Aufenthalt in der Tat zu einer besondern kleinen Idylle wurde. Dabei begünstigte uns das schönste Wetter, so daß meine Frau, die noch nie südlicher als Nürnberg gekommen war, die ganze Alpenherrlichkeit hier in den vollsten Zügen genoß.

Von Salzburg aus machten wir eine höchst genußreiche zehntägige Fußwanderung durch das Salzkammergut, zunächst über Hallein nach Golling (Gollinger Fall, Öfen, Paß Lueg), dann durch das Lammertal über Abtenau nach Gosau. Von Abtenau aus bestiegen wir das Gamsfeld, eine wundervolle, 6000 Fuß hohe Alpe, welche dem Tauerngebirge gegenüber ganz isoliert liegt und uns beim schönsten Wetter eine herrliche Aussicht über die Seen und Alpen des Salzkammerguts bis in die bayrische Ebene hinein einseits, auf die Schneespitzen der Zentralalpen anderseits gewährte. Eine der herrlichsten Partien war die nun folgende Wanderung nach den beiden Gosau-Seen (am Fuße des Dachsteins), von denen ich namentlich den hinteren zu den schönsten der ganzen Alpenkette rechne. Von Gosau wanderten wir nach Hallstatt (Waldbach-Strub), fuhren über den Hallstätter See und gingen über Ober-Traun nach Aussee. Von hier besuchten wir die 3 reizenden hintereinander gelegenen Aus-Seen, den Grundl-, Kammer- und Töplitz-See, ferner das prächtige Alt-Aussee und wanderten über letzteres durch eine höchst wilde Urwaldgegend auf höchst selten betretenem Holzhauer-Pfade durch die sogenannte Rallenbach-Wildnis nach Ischl. Da ich Ischl als Badeort nicht ausstehen kann, fuhren wir von hier direkt ohne weiteren Aufenthalt wieder nach Salzburg zurück, wo uns das unverschämte Glück, dessen wir uns immer erfreuen, eine neue Überraschung bereitet hatte, die Feier des großen siebenten Deutschen Künstlerfestes ... Wir schneiten mitten hinein ... Das war wieder ein Fest, wo ich Dich, lieber alter Junge, aufs herzlichste an unsere Seite wünschte. Wie hättest Du mit uns getollt und gejubelt, um so mehr, als wir beide mit Deinem lieben Freunde Hermann Brücke ein höchst fideles Kleeblatt bildeten ... Ein sehr fideler Jenenser Kollege, Schulrat Professor Stoy, trug nicht wenig dazu bei, unsere Lustigkeit zu erhöhen.

Am Sonntag, den 7ten September, verließen wir das liebe Salzburg ... Von Innsbruck aus machten wir wieder eine 14tägige Rundwanderung durch Nord- und Mittel-Tirol, bis Meran herab. Unser Plan, über die Stubaier und Ötztaler Ferner zu gehen, wurde leider durch ein furchtbares Unwetter vereitelt, welches am 6ten September ganz Nordtirol in entsetzlicher Weise weithin verheert hatte. Die oberste Talstufe war meist völlig überschwemmt und mit fortgerissenen Steinmassen, entwurzelten Bäumen etc. überdeckt. Die Talsohle selbst war in vielen Tälern (z.B. Stubai, Ötz, Riedeaue) völlig ungangbar geworden, da alle Brücken fortgerissen waren. Die Gletscher waren weit herabgeschmolzen und völlig unzugänglich. Zunächst gingen wir dann über den Brenner nach Sterzing, von da über den Jaufen nach Meran. Dort verlebten wir drei herrliche Tage und wanderten dann westwärts das Etschtal hinauf bis Spondini. Von hier aus machten wir einen Abstecher über das Wormser (Stilfser) Joch, der zum Glanzpunkt der ganzen Wanderung wurde. Beim schönsten Wetter erstiegen wir am 17. Sept. die Höhe des Passes (9000 Fuß), von wo wir die grandiose Gebirgswelt des Ortler in ihrer ganzen Pracht schauten, übernachteten dann jenseits der Höhe in Santa Maria auf ita1ischem Boden (Du kannst denken, mit welcher Wonne ich mich auf den Küchenherd setzte und stundenlang italienische Konversation mit den Grenzwächtern führte; keine Seele sprach da aber deutsch!!) und gingen andern Tags durch das schweizerische Münsterthal nach Mals zurück und bis zur Etschquelle. Dann über Finstermünz und Landeck im Inntal nach Innsbruck zurück. Von da per Eisenbahn nach München ... noch acht glückselige Tage im Vollgenuß der herrlichsten Kunstschätze ...

Um den ganzen Reiz dieser wunderschönen Hochzeitsreise zu ermessen, mußt Du wissen, daß wir beide fast überall zu Fuß wanderten, frei und unabhängig, wie ich es nur als Student gekannt habe. Unser ganzes gemeinsames Reisegepäck trug ich in der Dir wohlbekannten schwarzen kleinen Ledertasche auf dem Rücken .... Mehrmals wanderten wir ... zwölf, einmal aber auch dreizehn Stunden Wegs! ... Unvergleichliche Wanderlust! ...

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
23.12.1862
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Unbekannt
ID
40728