Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Bartholomäus von Carneri, Jena, 27. Dezember 1896

Jena 27.12.1896.

Lieber und hochverehrter Freund!

Für Ihre freundschaftliche Antheilnahme an meinem Ergehen herzlich dankend, kann ich Ihnen leider nicht viel Erfreuliches melden. Das Befinden meiner Frau u. Tochter, das sich vor einem Monat etwas gebessert hatte, ist wieder schlechter geworden. Wir müssen aber Geduld haben! Hoffentlich können wir Anfang Februar die geplante 3monatliche Reise nach der Riviera antreten, deren mildes Klima u. sonnige Natur meinen beiden armen Kranken hoffentlich gut thun wird, wenigstens eine Zeitlang! ||

Ich selbst gedenke von dort auf 6 Wochen nach Sicilien zu reisen und in Messina mich an dem Studium der reizvollen pelagischen Thierwelt und ihrer Entwickelung zu erfrischen und neue Arbeitskraft zu holen. Jetzt bin ich etwas abgespannt u. arbeite an der neuen (IX.) Auflage der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ nur mit halber Kraft. Ich werde wohl mit dem Abschlusse der „Systematischen Phylogenie“ (– die mich eigentlich seit 30 Jahren beschäftigt hat! –) meine Leistungsfähigkeit erschöpft haben. Das Buch macht übrigens bei den Fachgenossen wenig Eindruck u. wird wohl erst später gewürdigt werden.

– Für das kommende neue Jahr wünsche ich Ihnen u. Ihren lieben Kindern von Herzen alles Gute; Ihnen besonders, daß Ihr körperlicher Zustand möglichst wenig Beschwerden verursache, u. daß Ihre alte psychische Spannkraft erhalten bleibe. Heute erfuhr ich aus Triest, daß mein alter würdiger Freund Krauseneck (von dem ich Ihnen öfter erzählte) sich seit Jahresfrist in kläglichstem Zustande befindet, an beiden Beinen gelähmt, kindisch und von vielen neuralgischen Schmerzen geplagt. Es ist zu traurig, daß mit dem zunehmenden Alter meistens nur die Schattenseiten des Lebens stärker hervortreten. Glücklich, wer Ihre philosophische Resignation sich bewahrt! ||

Die neueste Dichtung unserer Freundin Eugenie delle Grazie, die „Moralische Walpurgisnacht“ habe ich mit größtem Interesse gelesen. Ich stimme Ihrem Urtheil ganz bei u. fürchte, daß sein Inhalt vielfach mißverstanden wird. Aber doch muß ich auf’s Neue den wunderbaren Genius der Dichterin bewundern, welche die großen Probleme des menschlichen Daseins im Chaos der gegenwärtigen Cultur-Entwicklung an der Wurzel angreift. Ich danke Ihnen herzlichst für die Freude, die Sie mir durch die Bekanntschaft mit dieser außerordentlichen Menschen-Seele verschafft haben!

Mit herzlichsten Grüßen und besten Wünschen

Ihr treuer alter

Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
27.12.1896
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Slg. Wilhelm Börner
Signatur
H.I.N. 167250
ID
40191