Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Helene Freifrau von Heldburg, Jena, 5. März 1919

Jena 5. März 1919.

Hochverehrte Freundin!

Sie haben mir an meinem 85. Geburtstage durch Ihr liebenswürdiges Schreiben und das begleitende „Lorber-Blatt“ des Giordano Bruno eine besondere Freude bereitet; nicht minder durch die herrliche Hyacinthen-Garnitur, welche mein Arbeitszimmer 14 Tage lang mit ihrem süssen Duft erfüllt hat. Empfangen Sie für diese neuen Beweise Ihrer bewährten freundschaftlichen Gesinnung meinen herzlichsten Dank! Ich empfinde ihren hohen Wert um so mehr, als jetzt die trostlose Lage unseres armen zertretenen und zerrütteten Vaterlandes alle Erinnerungen an die schönen Friedensjahre und den glänzenden Aufstieg der Deutschen Kultur im letzten halben Jahrhundert doppelt einschätzen lehrt. ||

In dieser beispiellosen Zeit der „Umwertung aller Werte“, wo alle tief gewurzelten alten Anschauungen zerstört und neue Entwicklungs-Probleme der Kultur aufgerollt werden, habe ich sehr oft an Sie und Ihren verewigten teuren Gemahl gedacht. Er ist glücklich zu preisen, dass er diese letzten 5 Jahren mit ihren endlosen Verlusten und Enttäuschungen nicht mehr erlebt hat. Abgesehen von allen besonderen patriotischen und patriarchalischen Gefühlen ist es für jeden wahren Menschenfreund höchst schmerzlich zu sehen, wie die Lüge und der gemeine Egoismus sowohl im Leben der Nationen wie der einzelnen Personen triumphiert, und wie alle edleren Seiten des Kulturmenschen den rohesten bestialischen Instinkten unterliegen. Wo bleibt da die wahre „christliche Liebe“? ||

Für meine Person bin ich froh, bald aus dem tollen Chaos der Gegenwart erlöst zu werden. Meine Gesundheit hat in den letzten Wochen so abgenommen, dass ich nur noch auf einen kurzen Lebensrest rechnen kann. Leider kann ich nicht mehr ordentlich arbeiten; die „Kristallseelen“, die ich Ihnen 1917 zusandte, sind meine letzte Arbeit gewesen. Die beifolgenden Thesen des „Monistenbundes“ und die beigelegte Schrift von Dodel habe ich Ihnen vielleicht schon früher gegeben? Dann bitte ich sie beliebig zu verwenden. Da ich den ganzen Winter nicht ausgehen konnte, habe ich als Eremit in meiner stillen „Villa Medusa“ ganz zurückgezogen gelebt und mich mit Aquarell-Malen und Ordnung meiner Lebens-Erinnerungen beschäftigt, welche in dem „Haeckel-Archiv“ nebst meinen Kunst-Sammlungen aufbewahrt werden sollen. (Mein Archivar, Dr. Heinrich Schmidt, 44 Jahre alt, ist aus Meiningen).

Durch Seine Hoheit Prinz Ernst, der mich mit seinem Besuche beehrte, erfuhr ich, dass es Ihnen verhältnismässig gut geht und Ihnen die Gesundheit nicht allzu viel Leiden und Sorgen macht. Ich wünsche von Herzen, dass sie sich andauernd bessert, und Ihnen die Fähigkeit lässt, die reichen Erinnerungen Ihres interessanten Lebens voll zu genießen!

Indem ich Ihnen meinen wärmsten Dank für Ihre gütige Gesinnung wiederhole, bleibe ich stets Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
05.03.1919
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Thür. Staatsarchiv Meiningen
Signatur
Hausarchiv, NL Helene von Heldburg, Nr. 437
ID
40166