Ernst Haeckel an Bartholomäus von Carneri, Jena, 5. Juni 1885
Jena 5 Juni 85
Hochverehrter und lieber Freund!
Sie werden wahrscheinlich denken, daß ich entweder nach Ceylon zurückgekehrt bin oder dieses irdische Jammerthal bereits verlassen habe; da ich Ihren lieben Brief nebst dem wundervoll pulicinen [!] Megalocephalus-Porträt nicht beantwortet, und nicht einmal zur Hochzeit Ihrer lieben und hochverehrten Tochter meine besten Glückwünsche gesendet habe! ||
Indessen würden Sie diese unverzeihliche Nachlässigkeit doch vielleicht entschuldigen, wenn Sie wüßten, wie exclusive ich mich seit Beginn dieses Jahres in die Challenger Radiolarien vertieft habe – bloß um möglichst bald mit diesem mikroskopischen Ungeziefer fertig zu werden! Ich werde darüber fast selbst zum Protozoon! Nun bin ich jetzt schon im dritten Tausend der Species, hoffe aber 1886 (d. h. 10 Jahr nach Anfang der Arbeit) endlich fertig zu werden. || Inzwischen ist nun Ihre liebe Fritzi glückliche junge Frau, hoffentlich zu Ihrer vollen Befriedigung! Ich bitte, ihr nachträglich meine herzlichsten Glückwünsche zu Füßen zu legen, an deren Aufrichtigkeit sie gewiß nicht zweifelt! – Zu dem glücklichen Fortschritt und der zunehmenden Anerkennung Ihrer werthvollen philosophischen Publicationen gratulire ich ebenfalls von Herzen, und wünsche der beabsichtigten Gesammt-Ausgabe besten Erfolg! ||
In den letzten Wochen sprach ich hier zwei junge Philosophen aus Halle, Prof. Stumpf und Vaihinger, und freute mich sehr, aus ihren Mittheilungen zu ersehen, wie mächtig die Anerkennung und Verwerthung der monistischen Philosophie auf Grund des Darwinismus fortschreitet!
Trotz allem Rückschritt auf einzelnen Gebieten geht es im Ganzen doch sehr erfreulich vorwärts!
Mit freundlichsten Grüßen (auch an Baron v. Königsbrunn und sonstige Grazer Freunde)
treulichst Ihr
Ernst Haeckel