Delle Grazie, Marie Eugenie

Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 17. April 1895

Wien, 17. April 1895.

XIX. Colloredogasse 1.

Hochverehrter Herr!

Komm’ ich auch erst heute dazu, für Ihre eben so reichen als inhaltsvollen Gaben zu danken, so hab’ ich’s doch, in der Lectüre Ihrer „Indischen Reisebriefe“ verloren, in Gedanken schon so und so oft mal gethan. Noch selten hat mich ein Buch so gefesselt, so außer Athem gehaltena, mir so die Seele durchleuchtet, wie dieses! ||

Maler, Schriftsteller und Gelehrter haben sich hier zu einem ganzen Menschen vereint, und jeder auf seine Weise verklärt gegeben, was er schauend empfing. Ich brauchte nicht Ihr Bild zu kennen, um mir zu denken, dass Ihr Auge „sonnenhaft“ ist. Und wie viel Licht und Sonne haben Sie gebannt und für immer eingefangen in diesem klassisch-schönen Werke! Noch bin ich nicht zu Ende damit; aber von Tag zu Tag wächst die Freude und an ihr der Genuss, || mit dem ich mich an dieses Buch verliere. Die Neu-Auflage der „Anthropogenie“ konnt’ ich noch nicht zur Hand nehmen; doch bin ich auf ihr Verhältnis zu früheren Auflagen gespannt. Also noch einmal: der wärmste, innigste Dank Ihrer Schülerin!

Wie glücklich es mich machen würde, einen Gelehrten, den ich so verehre, persönlich sehen zu können, brauch’ ich wohl nicht erst zu betonen. Ich sage dies mit Bezug auf Ihre, mir mitgetheilten Reisepläne. Von Mitte August an bin || ich heuer in Salzburg, und Sie dort sehen zu können, würde mich stolz und froh machen. Von München aus ist’s ja nicht so weit mehr dahin; also bitte, ist’s Ihnen halbwegs möglich, so bleiben Sie bei Ihrem Entschluss. Mit Ihnen in solcher Umgebung über Kunst und Ihre Wissenschaft sprechen zu können, wird mir sein, wie ein schöner Traum!

Neulich traf ich einen Jenenser Prof. Ottokar Lorenz in einem Wiener hochangesehenen Hause – Frau von Gerold – zu Besuch, und bat ihn, Ihnen meine hochachtungsvollsten Grüsse auszurichten. Hat er’s gethan? Wenn nicht, wiederholt sie hier, Ihre bewundernd ergebene

Eugenie delle Grazie.

a irrtüml.: gethalten

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
17.04.1895
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 4
ID
4