Ernst Haeckel an Richard Semon, Jena, 12. Juni 1911
Jena 12.6.1911.
Lieber Freund Semon!
Ihnen und Ihrer lieben Frau für Ihre herzliche Teilnahme dankend, kann ich Ihnen mitteilen, dass es mir endlich (nach 8 schmerzenreichen Wochen) langsam besser geht. Ich humple auf Krücken im Zimmer umher, werde aber erst im Juli etwas spazieren fahren können. Seit 2 Jahren, seit dem Rücktritt vom Amt (– das ich besser noch bis letzten Ostern behalten hätte –) bin ich von einer Kette von Misgeschick verfolgt. Von meinem bösartigen Amtsnachfolger Plate habe ich Nichts wieder gesehen, höre nur, dass er als Dozent und Laboratoriums-Director grossen Eifer und Erfolg entfaltet; ob er seine Absicht, das Phyletische Museum ganz allein herzustellen, ausführt, weiss ich nicht. – ||
Äusserst schmerzlich ist für mich, ebenso wie für Sie, der hoffnungslose Zustand unseres lieben alten Freundes A. Giltsch. Ich sah ihn zuletzt vor 9 Wochen (8 Tage vor meinem Sturz), fand ihn schon sehr elend und mutlos, mit Ascites, Pericarditis etc. Heute schickte ich meinen alten Famulus Pohle hin (auch sehr reduzirt und a. D.). Er fand G. bewusstlos, bereits nahe dem Ende – erst im 60. Lebensjahre! –
Wie schade um dieses seltene Talent und diesen vortrefflichen Menschen!
– Grosse Verwunderung erregt es hier, dass der Nachfolger von W. Müller, Prof. Dürck (– dem für den Neubau des von ihm projectirten pathol. Instituts ½ Million bewilligt ist! –) plötzlich sein Ordinariat aufgiebt, um an einem Krankenhaus in München Prosector zu werden.
– Mit herzlichen Grüssen an Sie Beide und an Karl Bauer nebst Gemahlin treulichst Ihr alter Ernst Haeckel.
[Gedrucktes Dankschreiben, Jena, 18. Mai 1911]
P.S. Über den wachsenden Erfolg Ihrer „Mneme“ und Ihres Kampfes für die „Transformative Vererbung“ freue ich mich sehr! Glückauf! – Wie kläglich und unklar ist Oscar Hertwig auch in diesen Fragen!