Baer, Karl Ernst von

Karl Ernst von Baer an Ernst Haeckel, o. O., o. D.

Hochgeehrter Herr Professor!

Vor längerer Zeit habe ich Ihre Schrift „Ziele und Wege der heutigen Entwickelungsgeschichte“ erhalten, die Sie mir zu dediziren mir die Ehre erwiesen haben. Wenn ich so lange Zeit hindurch angestanden habe, Ihnen meinen ergebensten Dank abzustatten, so kann ich nicht umhin zu gestehen, daß der Schrecken mich in so viele & lebhafte Polemik verwickelt zu sehen, mir hemmend entgegen getreten ist. Ich weiß sehr wohl, daß Sie bei vielfacher Gelegenheit meine antik gewordenen Verdienste um die Entwickelungsgeschichte lebhaft & über a ihren Werth anerkannt haben. Dankbar muß ich dafür sein, wenn man mir zugibt, daß || ich denkend die mir bekannt gewordene Entwickelung, insbesondere der Wirbelthiere, überschaut habe. Auch habe ich nie in Zweifel ziehen können, daß die Reihenfolge des Auftretens der verschiedenen Organismen eine Entwickelungb sein müsse. Dennoch habe ich der Ausbildung des Darwinismus, wie sie bis jetztc erschienen ist, nicht ganz zustimmen können, weil mir vor allen Dingen zu viel Willkür dabei zu herrschen scheint, auch habe ich niemals mich überwinden können, dieser Entwickelung ein Ziel abzusprechen, wodurch der Charakter der Entwickelung verloren ginge, & der ganze Vorgang nur ein d Erfolg einer Menge Wirksamkeiten sein würde. Diesen meinen Bedenken hatte ich endlich versucht einen Ausdruck zu geben und zwei Tage vor Empfang Ihres geehrten Briefes hatte ich den Schluß zweier Abhandlungen über diese Themata in die Druckerei nach Leipzig abge-||sendet. Ich hatte auch bestellt, daß mane Ihnen ein Exemplar der Druckschrift übersenden möge, was f hoffentlich jetzt schon geschehen ist.

Es mußte mich daher das Gefühl ergreifen, daß ich die Widmung kaum verdient habe und daß Sie leicht über mich sehr erzürnt sein könnten. Jedenfalls wünsche ich in meinem Alter von 84 Jahren, daß sich die Wissenschaft ruhig entwickeln möge. Meine eigenen Arbeiten liegen schon so weit ab, daß sie den Reichthum an Einzelheiten, wie er bei meinen Nachfolgern vorkommt nicht beanspruchen können. Meine allgemeinen Ansichten, die ich vom Jahr 1834 an hie & da ausgesprochen habe, wareng im Grunde von den Darwinschen nicht sehr verschieden, aber freilich viel unbestimmter & unsicherer. So viel ich weiß waren sie damals allgemeiner verbreitet, als man jetzt anzu-||nehmen scheint, denn derh Ueberzeugung der systematischen Botaniker & Zoologen, daß alle Species von Pflanzen & Thieren ewig unveränderlich gewesen sind, sah man doch sehr leicht an, daß sie nur auf der bekannten ganz willkürlichen und unbewiesenen Annahme Linnés beruht.

Mögen Sie fortfahren des Abgehenden freundlich zu gedenken.

a gestr.: Verdienst an; b korr. aus: Entwickelungs; c gestr.: allmälig, eingef.: bis jetzt; d gestr.: Ver; e gestr.: von, eingef.: man; f gestr.: vielleicht; g gestr.: sind, eingef.: waren; h korr. aus: deren;

 

Letter metadata

Gattung
Empfänger
Besitzende Institution
UB Gießen, Nachlass Karl Ernst von Baer
Signatur
Briefe, Bd. 24 (Briefentwurf von Baers an Haeckel, o.D.)
ID
39736