Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Walther May, Jena, 24. Januar 1911

Jena 24. Januar 1911.

Lieber Herr Professor!

Sie haben mir mit Ihrem schönen, gestern erhaltenen Aufsatze über mein (nunmehr abgeschlossenes) Lebenswerk im Februar-Heft (654) von Westermann’s Monatsheften eine besondere Freude bereitet und eine glänzende Anerkennung für meinen 77.sten, in 3 Wochen bevorstehenden Geburtstag antezipirt [!]. Ich bin überzeugt (– und zwar mit freudigem Stolz! –), daß Sie in diesem klaren, das Wesentliche knapp zusammenfassenden Lebensbilde den Charakter meiner Persönlichkeit und Arbeit richtiger dargestellt haben als manche andern Lebensbilder, – ebenso wie in Ihrer gründlichen und objectiven „Chronik meines Lebens und Wirkens“ (1909). ||

„Still im geretteten Boot

Treibt in den Hafen der Greis“!

Dieses tröstliche (– und zugleich entsagungsvolle –) Goethe-Wort empfinde ich jetzt am Schlusse des 77.sten Lebensjahres lebhafter als je, ich bin ehrlich froh, mit den „Welträthseln“ (1899) wirklich „einen Strich unter meine Lebensarbeit gemacht zu haben“. Eigentlich hatte ich ja schon 1866 deren ganzes Programm in der „Generellen Morphologie“ aufgestellt – leider ohne die Fähigkeit, es in den folgenden 45 Jahren entsprechend ausführen zu können. Besonders befriedigt mich jetzt das Gefühl, mit dem „Sandalion“ (Dezember 1910) die widerwärtige, mir aufgedrungene „Fälschungs“-Polemik abgeschlossen zu haben. || In den letzten drei Wochen habe ich mich viel mit einem (zu Neujahr konzipirten) Gedanken beschäftigt, in dem Sie eine wichtige Rolle spielen, nämlich: angemessene Ordnung und Verwertung der literarischen und künstlerischen Schätze, welche ich „Zur Geschichte der Entwickelungslehre“ in meinem „Phyletischen Archiv“ aufgestapelt habe. Letzteres umfaßt die drei Räume in der südlichen Hälfte der Ostfront des Phyletischem Museums (Gedenksaal, Bibliothek und Arbeitszimmer), welche ich mir von Anfang an vorbehalten hatte, deren Direktion und Verwertung mir aber mein Amtsnachfolger, Prof. Ludwig Plate, gleich nach seinem Amtsantritt (April 1909) energisch bestritten hatte. ||

Die Regierung hat mir Recht gegeben, und hoffe nun noch vor Toresschluß (– vor meiner „Höllenfahrt“ –) jene kostbaren, in vieler Beziehung einzigen Schätze in die Hände von einigen treuen und zuverlässigen Schülern legen zu können, die für fruchtbare Verwertung und Publikation derselben Sorge tragen.

Dabei habe ich in erster Linie an Sie und an Dr. Heinrich Schmidt gedacht, auch an Wilhelm Bölsche (der aber keine Zeit dafür haben wird). Näheres darüber mündlich, wenn Sie mich einmal hier besuchen (hoffentlich im nächsten Sommer).

Mit wiederholtem herzlichen Dank und besten Wünschen

treulichst Ihr alter

Ernst Haeckel.

P. S. Wenn Sie noch 1 oder 2 Abdrucke Ihres Aufsatzes zur Disposition haben, möchte ich darum bitten.a

a Text weiter am linken Rand von Seite 4, quer zur Schreibrichtung: P. S. … bitten.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
24.01.1911
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Deutsches Museum München, Archiv
Signatur
HS 08122
ID
39706