Ernst Haeckel an Walther May, Jena, 18. März 1918

Herrn Professor Dr. Walther May. Karlsruhe.

Jena 18.3.18.

Lieber Herr Professor!

Ihr freundlicher Glückwunsch zu meinem 84. Geburtstage traf gleichzeitig mit Briefen Ihrer beiden Kollegen ein, der Professoren Otto Lehmann und Arthur Böhtlingk. Da Sie Alle Drei auf meine letzte Arbeit:

–„Kristallseelen“ Bezug nehmen, erlaube ich mir, auch meine Antwort an Sie gemeinsam zu senden, mit der Bitte, die beiden Einlagen an Lehmann und Böhtlingk an Dieselben abzugeben. Vielleicht können Sie Ihre Kollegen dabei auf meine beigelegten „Thesen des Monismus“ (1904) aufmerksam machen, in denen ich möglichst knapp und klar den oft missverstandenen Gegensatz von Monismus und Dualismus formuliert habe:

– I. Monismus = Gott-Natur! Idenditaet von Materie und Energie – Natur und Geist – (Physik!)a

– II. Dualismus = Zwei verschiedene Welten: Natur und Geisterwelt getrennt (Metaphysik!) – Näheres enthält meine „Gott-Natur“ (1914), praecise formuliert in der „Trinitaet der Substanz“ (Tabelle S. 67, die ich auch am Schlusse der „Kristallseelen“ (S. 152) wiederholt habe. – ||

Wenn Sie Ihren Kollegen Arthur Drews bewegen könnten, diesen Gegensatz beider Weltanschauungen anzuerkennen, würde das für ihn selbst wie für das klare Verständnis beider Parteien sehr nützlich sein. Drews bezeichnet sich mit Unrecht als Monist, ebenso wie sein Vorbild und Meister Eduard Hartmann; Beide sind reine Dualisten! Und Vitalisten!b – („Natur ist Alles“!! – Goethe, Giordano Bruno, Spinoza etc.)c – Die vielbesprochene „Psychologische Metamorphose“ von Oskar Hertwig, dem „Renegaten des Darwinismus“ – und Mystiker! – wird allgemein, auch von seinem Bruder Richard – sehr bedauert; er ist „Kernkörperchen“ geworden und hat alle Übersicht über „Entwicklung“ verloren. – – Mündlich würde ich Ihnen diese und andere betreffende Fragen gern aus einander setzen; schriftlich ist das nicht möglich. – Meine Kräfte nehmen jetzt so ab, dass ich nur noch die Ordnung meines litterarischen Nachlasses und des „Archivs“ besorgen kann. Mein Archivar, Dr. Heinrich Schmidt, übernimmt die Ausführung meines Testamentes. Im April erscheint seine „Geschichte der Entwicklungslehre“ (über 500 Druckseiten), die Sie wohl interessieren wird. –

– Mit freundlichen Grüßen und besten Wünschen

Ihr alter Invalide

Ernst Haeckel. ||

[gedrucktes Rundschreiben:]

Dank und Abschied.

Aus Anlaß meines 84. Geburtstages bin ich am 16. Februar d. J. durch eine große Zahl von freundlichen Glückwünschen und gütigen Geschenken erfreut worden. Leser meiner Schriften aus den verschiedensten Berufskreisen, namentlich aber alte treue Freunde und dankbare frühere Schüler, haben mir ihre andauernde Teilnahme an meiner wissenschaftlichen Lebensaufgabe, der Erkenntnis und Lehre der natürlichen Wahrheit, ausgedrückt. Besonders erfreut hat mich in diesen sympathischen Kundgebungen die zunehmende Anerkennung meiner monistischen Entwickelungslehre, namentlich der Anthropogenie, und die wachsende Überzeugung, daß nur auf diesem sicheren empirischen Grunde der Weg zur Lösung der Welträtsel und zum Verständnis der Lebenswunder zu finden ist.

Da ich leider außerstande bin, allen einzelnen Freunden und Anhängern meinen aufrichtigen Dank persönlich auszusprechen, bitte ich Sie, dessen schlichten Ausdruck in diesen wenigen Zeilen freundlich entgegen zu nehmen. Damit verbinde ich zugleich einige kurze Worte des Abschieds. Wie ich bereits am 17. Juli 1917 auf einer gedruckten Postkarte vielen Korrespondenten mitteilte, hatte mein Gesundheitszustand und meine Arbeitskraft seit || mehreren Monaten bedenklich abgenommen. Seitdem haben sich alte Zirkulations-Störungen, bedingt durch zunehmende Herzschwäche, bedeutend verschlimmert. Es ist sehr wahrscheinlich, daß ich noch vor Eintritt des nächsten Winters zur ewigen Ruhe eingehen werde. Daher ergreife ich diese Gelegenheit, um meinen lieben alten Freunden und weiteren Bekannten ein herzliches Wort des Abschieds zuzurufen. Ich scheide von Ihnen mit wiederholtem Besten Dank und mit der Versicherung, daß ich in Ihrer fortwirkenden lebendigen Teilnahme an meinen naturphilosophischen Studien den wertvollsten Lohn für meine ernste sechzigjährigen Bemühungen erblicke. Wie ich vor 25 Jahren in meiner Altenburger Rede (1892) den „Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft“ bezeichnete, und wie ich 1914 beim Eintritt in mein neuntes Dezennium die „Gott-Natur“ im Sinne unseres größten Dichters und Denkers als höchstes Ideal vernunftgemäßer Weltanschauung hinstellte, so hoffe ich jetzt am Schlusse meiner Lebensarbeit, daß nach baldigem Abschluß des wahnsinnigen kulturzerstörenden Weltkrieges der heißersehnte „Deutsche Friede“ den Neubau der zerrütteten Kultur auf dem festen Grunde des naturalistischen Monismus segensreich errichten wird.

Jena, 18. Februar 1918.

Ernst Haeckel.

a gestr.: (Goethe), eingef.: Physik!; b eingef.: und Vitalisten!; c eingef.: („Natur … Spinoza etc.)

Brief Metadaten

ID
39705
Gattung
Brief ohne Umschlag
Empfänger
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Zielort
Zielland
Deutsches Reich
Datierung
18.03.1918
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Besitzende Institution
Deutsches Museum München, Archiv
Signatur
HS 08123
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an May, Walther; Jena; 18.03.1918; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_39705