Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Karl Friedrich Mohr, Jena, 17. November 1869

Jena 17 November 69

Verehrtester Herr College!

Für Ihr freundliches Schreiben und die gütigst übersandten Schriften meinen herzlichsten Dank. Es ist mir eine große Freude und Genugthuung, mich mit Ihnen in so vieler Hinsicht in voller Übereinstimmung zu finden, und wie Sie selbst, hoffe ich auch, daß diese Übereinstimmung durch weiteres Eingehen auf die Anschauungen und Gesichtspunkte, die wir unabhängig von einander eingenommen haben, immer größer und vollständiger werden wird. Besonders verbunden bin ich Ihnen für Ihre kritischen Bemerkungen zu verschiedenen Stellen meiner Schöpfungsgeschichte, insbesondere die auf die Urzeugung bezüglichen. Ihre eingehenderen chemischen Bemerkungen über dieselbe haben mich sehr interessirt. Wenn man sich überlegt, wie außerordentlich schwierig jedenfalls die directe Beobachtung der Urzeugung von || Moneren sein würde, selbst wenn der Vorgang noch heute alltäglich vorkäme, so wundert man sich gar nicht, daß bis jetzt noch keine positive Beobachtung vorliegt.

Auch darüber bin ich mit Ihnen einverstanden, daß die ersten und ältesten, durch Urzeugung entstandenen Urwesen nur pflanzlicher Natur gewesen sein können, – d. h. soweit es den Stoffwechsel betrifft. Doch glaube ich, Sie irren darin, wenn Sie glauben auf Grund des entgegengesetzten Chemismus resp. Stoffwechsels eine ganz scharfe Grenze zwischen Thier und Pflanze herstellen zu können. Es geht uns hier mit dem chemisch-physiologischen Kriterium, wie mit jedem anderen. Der Stoffwechsel vieler parasitischer Pflanzen, und vor allem der Pilze, die gleich den Thieren Sauerstoff einathmen und Kohlensäure ausscheiden, und doch unbestritten echte Pflanzen sind, läßt diese Scheidung ebenso hinfällig werden, wie jede andere. Zudem wissen wir über die Athmung vieler niederster Organismen, z. B. Rhizopoden, Myxomyceten etc. noch nichts, und a priori läßt sich darüber gar nichts sagen. || Sie sagen: „Es ist ganz undenkbar, daß ein Wesen welches Sauerstoff ausscheidet, zugleich Kohlensäure aus dem Kohlenstoff seines Körpers bilden kann.“ Ich entgegne aber: So gut die meisten Pflanzen nur unter dem Einflusse des Lichts Sauerstoff ausathmen, im Dunkeln aber Kohlensäure – mit anderen Worten: so gut dieselben unter gewissen Existenz-Bedingungen ihren Stoffwechsel geradezu umkehren (wenn auch natürlich mit Überwiegen der einen Function) – so gut ist es doch auch denkbar, daß niedere Organismen a existiren, welche auch unter anderen Bedingungen eine zeitweilige Umkehrung im Chemismus ihres Stoffwechsels erleiden. Ebenso erscheint es mir daher auch denkbar, daß in Folge allmählicher (phyletischer!) Umkehrung des Stoffwechsels – d. h. unter dem Druck bestimmter Anpassungs-Bedingungen sich die ersten Thiere nicht selbstständig durch Urzeugung entwickelt haben, sondern aus Urorganismen oder Protisten, die ursprünglich pflanzlichen Lebens-Chemismus zeigten. b Auch in jeder anderen physiologischen und morphologischen Beziehung ist es unmöglich, Thier und Pflanze streng zu scheiden, wie ich ausführlich im zweiten Buch meiner generellen Morphologie gezeigt habe. ||

Ich hoffe sehr, diese und andere schwierige Fragen der allgemeinen Naturgeschichte, die uns beide gleichermaßen interessiren, im mündlichen Verkehr – hoffentlich schon im nächsten Jahre – näher erörtern und mit Ihnen womöglich zu größerer Klarheit bringen zu können. Für Ihre gütige Einladung nach Bonn danke ich Ihnen sehr. Ich hoffe allerdings, im nächsten Jahre, entweder Pfingsten oder c in den Herbstferien einmal Sie in Bonn zu besuchen und recht gründlich mich mit Ihnen auszusprechen. Ihr sehr gütiges Anerbieten jedoch, bei Ihnen zu wohnen, muß ich deßhalb dankend ablehnen, weil ich in Bonn eine Tante (Schwester meiner Mutter) besitze, die das keinesfalls gestattend würde. Das ist die verwitwete Professor Bleek, bei der ich schon früher gewohnt habe. Das soll uns abere nicht hindern, zusammen Excursionen zu machen und nach Wunsch unsf zu sehen. – Ich bin nun allerdings ein solches Arbeitspferd und werde mit jedem Jahre mehr derartig in verschiedene literarische Unternehmungen verwickelt, daß ich oft nicht weiß, wo mir der Kopf steht, und daß ich eigentlich über keine Ferienreise früher als 8 Tage vorher bestimmen sollte. Indessen hoffe ich doch wirklich im nächsten Sommer meinen Besuch in Bonn auszuführen und dann die Freude Ihrer persönlichen Bekanntschaft zu genießen. Inzwischen verbleibe ich mit wiederholtem Dank und dem Ausdrucke aufrichtiger Hochachtung

Ihr ganz ergebener

Haeckel

Beifolgend eine g Kleinigkeit über „Arbeitstheilung“, in Ermangelung von etwas Besserem, das ich Ihnen jetzt schicken könnte.h

a gestr.: xx; b gestr.: Ich xxxx; c gestr.: Oste; d korr. aus: gestattet; e gestr.: jedoch, eingef.: aber; f eingef.: uns; g gestr.: ferner; h auf dem linken Rand von S. 4: Beifolgende eine … schicken könnte.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
17.11.1869
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
ULB Bonn, Dezernat 5/Abt. Handschriften und Rara
Signatur
NL Mohr, S 1413 (Nr. 63)
ID
39653