Ernst Haeckel an Karl Friedrich Mohr, Jena, 27. Oktober 1869
Jena 27. Oct. 69.
Hochverehrtester Herr College!
Durch den Beginn des Winter-Semesters war ich in den letzten Tagen so beschäftigt, daß ich erst heute dazu komme, Ihnen für Ihr freundliches Schreiben vom 21. October meinen Dank auszusprechen. Für Ihr gütiges Anerbieten, mir Ihre „Geschichte der Erde“ zu schicken, danke ich Ihnen sehr, werde jedoch keinen Gebrauch davon machen, weil ich mir Ihr geistvolles Werk, von einem Bekannten vor einigen Monaten darauf aufmerksam gemacht, bereits selbst angeschafft, und mit größtem Interesse studirt habe. Leider sind meine chemischen Kenntnisse so sehr mangelhaft, daß ich nicht im Stande bin, Ihnen überall auf das Gebiet zu folgen, auf welchem Sie in so umfassender Weise neuen richtigen Anschauungen Bahn brechen und mit dem alten dogmatischen Kram aufräumen. || Daß wir in sehr vielen Beziehungen, und namentlich in dem allgemeinen kritischen und mechanischen Standpunkte übereinstimmen, werden Sie bereits aus meiner Schöpfungsgeschichte gesehen haben. Die Einheit der gesammten, organischen und anorganischen Natur, die Continuität ihrer Entwickelung, die alleinige Wirksamkeit mechanischer Ursachen, sowie alle jene principiellen Verhältnisse, auf welche Sie in Ihrem „Rückblick“ hindeuten, sind Grundgesetze, an denen ich ebenso, wie Sie selbst festhalte. Dagegen muß ich Ihnen offen und freimüthig bekennen, daß mir Ihre paläontologischen Ansichten zum großen Theil nicht richtig zu sein scheinen. Insbesondere kann ich dem Capitel über „Fortbildung und Rückschritt“ nicht beipflichten. Soweit ich die paläontologischen Thatsachen kenne und im Zusammenhang mit den ontogenetischen (embryologischen) und vergleichenden anatomischen Thatsachen-Reihen zu beurtheilen vermag, || scheinen mir dieselben eine fortschreitende Entwickelung des gesammten organischen Lebens auf der Erde im Ganzen (natürlich unbeschadet zahlloser Rückschritte im Einzelnen) unbedingt zu beweisen, der palaeontologische Fortschritt und ebenso die zunehmende Mannichfaltigkeit der Formen scheinen mir mit Nothwendigkeit aus dem Kampf ums Dasein zu folgen, wie ich das auch in meiner Schöpfungsgeschichte (S. 224, 229) erörtert habe. Für höchst wichtig und bedeutsam halte ich ferner den vor mir hervorgehobenen innigen Causal-Nexus zwischen Ontogenie und Phylogenie, und ich muß aus der einfachen Thatsache, daß alle Thier- und Pflanzen-Individuen sich aus einer einzelnen Zelle entwickeln, den Schluß ziehen, daß alle Arten auch ursprünglich von einer einfachen Zelle abstammen (S. 253, 289). Diese können aber nur von Moneren abstammen, welche durch Autogonie entstanden. Somit weist Alles deutlich auf einen historischen Anfang des organischen Lebens auf der Erde hin, und es scheint mir durchaus unmöglich, jene ontogenetischen Thatsachen mit der Annahme einer ewigen Dauer des organischen Lebens auf der Erde in Einklang zu bringen. Auch die vergleichende Anatomie der fossilen und lebenden Thiere (namentlich der Wirbelthiere) weist zu deutlich und unwiderleglich auf jene fortschreitende Entwickelung hin. ||
Bezüglich der Kant-Laplace’schen Theorie sind Sie dem wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Publicum gegenüber in dem Nachtheil, nur negativ verfahren und keine neue Hypothese über die Entstehung des Planetensystems und der Erde insbesondere aufstellen zu können; Ihre 76. These wird die Leute nicht abhalten, doch immer wieder nach dem Ursprung der Erde und der Weltkörper überhaupt zu fragen, und in Ermangelung einer besseren positiven Hypothese werden sie an der Kant-Laplaceschen festhalten. Diesea Erwägung hat mich auch bestimmt, in der II. Auflage meiner Schöpfungsgeschichte, welche jetzt gedruckt wird, diese ganze Partie, wie überhaupt die geologischen Abschnitte (die übrigens, wie Sie selbst gesehen haben werden, gar keine selbstständige Bedeutung beanspruchen) unverändert zu lassen. Ich fühle b die Schwäche derselben sehr wohl und muß Ihre Einwürfe gegen die „landläufige Geologie“ zum großen Theile anerkennen; anderseits aber war ich zu einer totalen Umarbeitung des geologischen Theils (– und eine solche hätte erfolgen müssen! –) jetzt ganz außer Stande, zumal der Verleger mit der II. Auflage drängt. Vielleicht kann ich bei einer eventuellen III. Auflage das Versäumte nachholen. –
Es würde mir sehr erwünscht sein, wenn wir einmal in mündlichem Verkehr diese und viele andere Fragen erörtern könnten. Vielleicht komme ich nächstes Jahr nach Bonn; führt Sie Ihr Weg einmal in die Nähe von Jena, so würde ich sehr um Ihren Besuch bitten. Mit vorzüglicher Hochachtung und mit wiederholtem Danke Ihr ganz ergebener
Haeckel.
a korr. aus: Dieser; b gestr.: Ihre