Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Eduard von Hartmann, Jena, 30. Dezember 1875

Jena 30Dec75

Hochgeehrter Herr Doctor!

Für Ihren heute erhaltenen freundlichen Brief und die darin ausgesprochenen kritischen Bemerkungen bin ich Ihnen zu aufrichtigem Dank verpflichtet. Ich erkenne letztere als formell vollkommen berechtigt an, obgleich ich glaube, daß Sie bei genauer Bekanntschaft mit den His’schen Arbeiten und ihrem Objekte mir materiell Recht gebe würden. Gewiß ist apriori der von His betretene Weg nicht zu verwerfen, wie ich ihn ja auch als Versuch einer „Physiologie des Wachstums“ bereitwillig anerkannt habe.

Aber jeder genau mit dem Objecte Vertraute konnte voraussehen, daß die Resultate auf diesem Wege nur äußerst dürftige sein können und nicht den daran gestellten Erwartungen entsprechen. Außerdem aber hat His’ angebliche „Erklärung“ (die in der That kein Causal-„Moment enthält“) die große Gefahr herbeigeführt, daß die gedankenlosen Empiriker seine rohe und grobe mechanische Auffassung der Phänomene für eine genügende Erklärung der höchst verwickelten, feinmechanischen Processe ansehen.

Im Übrigen bin ich mit der Streitschrift über „Ziele und Wege“ selbst gar nicht zufrieden und habe keine Freude daran. Jedenfalls bin ich in der Hitze des Gefechts wohl zu weit gegangen. Froh bin ich jetzt, daß ich einen bereits an gefangenen zweiten Theil der Schrift nicht vollendet habe, in welchem ich versuchte, meine Auffassung der Entwickelungsgeschichte mit der Ihrigen in der „Philosophie des Unbewußten“ und mit derjenigen meines Freundes und Lehrers Alexander Braun auseinander zu setzen. Da dieser Theil selbstverständlich nicht polemisch war und eine ganz andere Farbe angenommen hätte, würde er zum ersten, schroff polemischen nicht gepaßt haben. Auch sah ich bald ein, daß ich zuvor noch viel gründlicher in dem philosophischen Theil der Frage mich orientieren müsse.

Je mehr ich über die philosophischen Probleme der Entwickelungsgeschichte nachdenke, desto mehr sehe ich ein, wie es mir hier noch an der nötigen Reife und Vorbildung fehlt. Ich behalte allerdings die hohen Ziele, die uns auf diesem Gebiete gesteckt sind, stets im Auge, erkenne aber zugleich immer mehr, wie ich wohl erst in späteren Jahren fähig sein werde, ihnen mich mehr zu nähern. Die Bemerkungen, die Sie in dieser Beziehung in Ihrer freundlichen Besprechung meiner Leistungen gethan haben, sind gewiß sehr richtig und sollen nicht vergeblich sein. Unter diesen Umständen scheint es mir zunächst das Beste, wenn ich mich wieder auf einen engeren empirischen Kreis des weiten biologischen Gebietes beschränke und hier durch phylogenetische Untersuchungen das Verständniß des massenhaft angehäuften empirischen Rohmaterials zu fördern suche. Wie dankbar diese Arbeit ist, habe ich erst kürzlich wieder an dem Aufsatz „über die Gastrula und die Eifurchung“ gesehen. Diese Arbeit, in der es mir mehr durch strenges Nachdenken, als durch eigene neue Beobachtungen, gelungen ist, ein sehr verwickeltes und hochwichtiges morphologisches Problem höchst einfach zu lösen, erweist sich als sehr dankbar. Schon jetzt kann ich erkennen, daß ich damit einen guten Schritt vorwärts gethan habe. Auf meine speciellen Fachgenossen hat dieser Aufsatz mehr gewirkt als alle meine früheren Arbeiten.

Für die gütige Zusendung Ihrer Nachträge zur VII.Auflage zur Philosophie des Unbewußten, sowie der Schriften „zur Schulreform“ und über „Kirchmanns Realismus“ sage ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank. Leider bin ich noch nicht dazu gekommen, sie zu lesen, da die Vollendung der Gastraea-Theorie und der anderen, Ihnen übersandten Schriften alle meine Zeit und Kraft in Anspruch nahmen. Gegenwärtig bin ich mit dem Schluß-Abschnitt der Gastraea beschäftigt, und wenn dieser in einigen Monaten vollendet ist, werde ich eine Pause machen und mich wieder zur Lectüre wenden.

Indem ich Ihnen zum Jahreswechsel meine besten Glückwünsche sage, bleibe ich mit hochachtungsvollem Gruße

Ihr ergebenster

Ernst Haeckel

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Datierung
30.12.1875
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Unbekannt
ID
39556