Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Eduard von Hartmann, Jena, 7. November 1874

Jena 7Nov74

Hochgeehrter Herr!

Ihr gestern erhaltenes Schreiben, worin Sie mir den wahren Verfasser der von mir aufrichtigst bewunderten anonymen Schrift vertraulich enthüllen, hat mich natürlich im höchsten Maaße interessiert und ich danke Ihnen dafür ganz besonders. Ganz unerwartet kam diese Enthüllung mir allerdings nicht. Theils hatte ich selbst bei der Lectüre der genannten Schrift Argwohn über die Identität des Critikers und des kritisierten Autors geschöpft; theils schienen mir später einige Andeutungen meines Freundes Zoellner jenen Argwohn zu bestätigen. Allein anderseits schien mir doch zu viel gegen diese Identität zu sprechen, und ganz irre daran wurde ich beim Lesen der S.679 in No.43 der „Literatur“, welche mir kürzlich aus Berlin zugesandt wurde. Hier, wie in vielen anderen ähnlichen Aufsätzen drängt sich immer wieder die Fundamental-Frage von der „Einheit der organischen und anorganischen Natur“ heran, welche ich auf Grund der im zweiten Buche der „generellen Morphologie“ (V. und VI.Capitel) zusammengestellten und erörterten Thatsachen entschieden vertreten muß.

Die größte Bedeutung für diese Frage besitzen jedenfalls die Moneren. Ich möchte Sie dringend bitten, sobald Ihre Zeit und Ihr Interesse es gestatten, diesen allerwichtigsten und interessantesten „Organismen ohne Organe“ ein eingebendes Studium zu widmen. Ich bin sehr gern bereit, Ihnen zu diesem Zwecke meine „Monographie der Moneren“ zu übersenden, falls Sie dieselbe nicht schon besitzen. Sie finden darin alles bisherige Material (was sehr leicht auch ohne Autopsie und ohne genauere anatomische Kenntnisse zu bewältigen ist) gesammelt und ich glaube, daß die daran geknüpften Schlüsse (besonders über Urzeugung, Plastiden-Theorie und Kohlenstoff-Theorie) ebenso einfach als zwingend sind. Die „Kohlenstoff-Theorie“ ist blos eine directe Application anerkannter chemischer Anschauungen auf das biologische Gebiet. Sie werden als virtuoser Denker sehr leicht das Dillettantenhafte meiner Philosophasterei durchschauen. Aber ich bin zu diesem Vorgehen gezwungen, wenn ich überhaupt Gedanken und Licht in das grauenhafte empirische Chaos meiner biologischen Wissenschaft bringen will. Sie glauben nicht, wie entsetzlich es hier aussieht. Die Gedankenlosigkeit und Stumpfheit der großen Mehrzahl der angeblich „exacten“ Biologen ist wahrhaft nonsens! (Vergleiche Das Beispiel von His, Anthropogenie S.628; oder den berühmten Streit zwischen „sprungweiser und allmähliger Entwicklung“ II ibid. S.132.) Haben Sie schon die neue Schrift von Alexander Wiessner über „das Atom“ gelesen (Leipzig, Thomas, 75)?

In vorzüglicher Hochachtung Ihr

E.Haeckel

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Datierung
07.11.1874
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Unbekannt
ID
39551