Ernst Haeckel an Anna Sethe, Messina, 23. Dezember 1859

Messina 23.12.59.

Glückauf zu dem neuen Jahr von ganzem Herzen, meine liebste Änni, zu dem vielersehnten 1860, welches Dir Deinen lieben, treuen Erni zurückbringt, und zwar in einer stark verbesserten und vermehrten, d.h. mit allerlei Ausstattungen bereicherten Ausgabe, welche Dir hoffentlich nicht unwillkommen sein wird. Gewiß haben wir beide alle Ursache, dem verflossenen langen Jahre 1859, trotz aller Bitterkeit und Wehmuth, die die lange schwere Trennung von dem geliebtesten Gegenstande mit sich bringt und die sich täglich und stündlich in dem Gedanken an den fernen Geliebten erneut, trotzdem diesem Jahr doch recht dankbar zu sein und mit recht froh erkenntlichem Herzen seine Rechnung abzuschließen. Denn abgesehen von dem außerordentlich viel Schönen und Guten, was mir die Reise in sehr vieler Beziehung gebracht hat, und was ja erst seinen vollen Werth und seine ganze Bedeutung erhält, wenn es auf auch [!] aus dem reinen Spiegel Deiner edlen Seele gereinigt und geläutert zurückkehrt, abgesehen von der hohen Bedeutung, welche ihre Früchte für unsere ganze weitere Lebensentwicklung und vielleicht direct für unsere selige Vereinigung haben werden & können wir der langen bitteren Trennung selbst gewiß auch sehr dankbar sein, für das, was sie uns durch unseren brieflichen, innigen Verkehr geworden ist. Das Feuer der glühenden Leidenschaft, welches in dem persönlichen Beisammensein so hell stets auflodert, ist dadurch zu der reinen milden Flamme zartester Liebe gemildert; in der Entbehrung des geliebtesten Wesens ist uns sein hoher, unersetzlicher Werth erst recht klar geworden und wir haben mir voller Klarheit das selige Bewußtsein erworben in unsern gegenseitigen Seelen den köstlichsten Schatz für das ganze künftige Leben, die sicherste Bürgschaft für dessen dauerndes Glück gefunden zu haben. Fahren wir so fort, das Gute in dem practisch handelnden Leben, das Wahre in dem Cultus der Natur, und das Schöne in der Verehrung der Kunst, als die idealen Principien und Endziele unsres Denkens und Thuns im Auge zu behalten, so denke ich, [Textverlust] ||

Wo mein Sinn sich am Sylvesterabend hinträumen wird, sagt Dir vielleicht das einliegende Blättchen, dessen Verse bereits am vorigen Sonntag mir in den Sinn kamen, bei einem späten Nachmittagsspaziergang, den ich nach der Faro di Messina, der Nordspitze Siciliens machte. Ein gewaltiger Siroccosturm wühlte das Meer in seinen Tiefen auf, so recht nach meinem Geschmack und es war mir das größte Vergnügen, beim Rückweg ihm mit offener Brust entgegen zu springen. Das kleine Phantasiebildchen so mangelhaft auch ist, machte mir umso mehr Spaß, als ich 2 Tage darauf am Dienstag, Deinen lieben, lieben letzten Brief erhielt, worin Du mir erzählst, daß Du auch von Deinem Professor in Jena geträumt hast; hab besten Dank dafür, Du liebstes, bestes Mädchen, und nimm Dir zur Belehrung an Deinen Jungen den innigsten Kuß und die wärmste Umarmung.

Anna, laß Dir die Lichter strahlen – an dem frischen grünen Baum,

Und Dir die Zukunft malen – als seis ein schöner Traum!

Nicht schnell vorüber eilend – den flüchtigen Winden gleich,

Nein, immer, immer weilend – in unserm kleinen Reich!

Ja, Liebchen laß uns unsere weißen, blauen, rothen und grünen Lichtern – die Unschuld, Treue, Liebe und Hoffnung – immer so festhalten, so werden wir gewiß die Glücklichsten auf Erden – oder wir sind es vielmehr schon jetzt in der gegenseitigen Überzeugung dieser Gewißheit. Je mehr ich von der Welt sehe und kennen lerne, je mehr ich überall die traurigsten Disharmonien, auch in Familien und unter Gatten, finde, wie jetzt reine Liebe und feste Treue leider schon sehr selten sind, um so höher schlägt jubelnd mein Herz in dem Gedanken an meinen treuen besten Schatz und in dem Bewußtsein, ihr für ihr reines, unschuldiges Herz ein eben solches zurückgeben zu können.

Halt Du nur auch immer so unverrückbar fest an Deinem lieben treuen Erni, der Dir das neu beginnende Jahr [Textverlust] ein paar Monaten glücklich und wohlbehalten in die offenen Arme [Textverlust] frohesten „Glückauf“ von Deinem Erni. ||

Einen herzlichsten Neujahrsgruß und Glückwunsch allen lieben Freunden und Verwandten, Deiner Mutter, Deinen Geschwistern, Tante Bertha, Tante Weiß, Beyrichs und wen Du von meinen Freunden siehst.a

H: EHA Jena, Sign.: A 39214. – 1 Bl., 14,1 x 22,1 cm, egh. Br., 2 S. beschr., Besitzstempel, Anstreichungen mit blauem Stift.

a Text um 180° gedreht am Kopf von S. 1: Einen herzlichsten … Freunden siehst.

Brief Metadaten

ID
39214
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Italien
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich beider Sizilien
Datierung
23.12.1859
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
1
Format
14,1 x 22,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 39214
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte; Messina; 23.12.1859; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_39214