Haeckel, Ernst

An Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Sorrento, 27. Juli 1859

Sorrento 27. 7. 59.

Liebste Eltern!

Endlich, endlich habe ich so eben durch Allmers, der in Neapel heut war, euren lieben, sehnlichst erwarteten Brief vom 17. 7. erhalten, der mir zu meiner größten Freude meldete, daß es euch wieder besser geht. Was habe ich in dieser letzten Woche für Bange um euch lieben, lieben Alten gehabt und wie mich stündlich nach besserer Nachricht von euch gesehnt. Euren Brief vom 10. 7., der mich durch die Kunde von eurer neuen Erkrankung so sehr betrübte, erhielt ich heut vor 8 Tagen, am 20. 7. als ich auf ein paar Stunden in Neapel war. Wie gern hätte ich euch sogleich geantwortet, aber das Schiff war schon Tags zuvor fort und das andere in jener Woche (am Sonnabend) ging nicht, da es zu außerordentlichem Truppentransport verwendet wurde. So habe ich mich mit dem Schreiben bis heut gedulden müssen, wo ein liebenswürdiger Norweger mir den Brief mitnehmen will. Ich bin aber in sofern froh darüber, als ich nun auch schon den zweiten beruhigenden habe und also wenigstens ruhiger und freudiger euch wieder schreiben kann. Hoffentlich wird ja dieser, wie es scheint, rheumatische Anfall, ohne alle weitere Nachtheile glücklich vorüber sein – übrigens solltet ihr eigentlich wegen eures jugendlichen Leichtsinns, durch den ihr ihn euch zugezogen habt, von eurem jungen Doctor tüchtig ausgescholten werden. Bitte, schreibt mira aber ja recht bald wieder, wie es steht und sobald es irgend schlimmer werden sollte, schreibt mir augenblicklich – ich stecke dann die weitere Reise auf und komme sogleich zurück. Dich, liebstes Mutterchen, möchte ich aber vor allen bitten, die trüben hypochondrischen Gedanken zu lassen, Du kannst sie ja Deinen Männern immer so vortrefflich austreiben und läßt Dich nie selber davon unterkriegen! Wie geht das zu? Wenn nur Dein Junge ein paar Stunden mal bei Dir sein könnte, er wollte Dir die Grillen und trüben Gedanken schon verjagen! Da das aber nicht sein kann, so laß das von Deinem lieben Schwiegertöchterchen in spe thun, die es wohl noch besser, als ich, kann. Sei frisch und guten Muths, Du liebstes, bestes Mutterchen, Du wirst ja gewiß noch lange gesund und munter bleiben || und sollst Dir noch viele Jahre von Deinem Jungen aus dem reichen fernen Süden erzählen lassen, wo er tagtäglich so unendlich so viel Neues Schönes und Großes kennen lernt. Freuen sollst Du Dich schon über ihn, wenn er zurückkömmt, das sag ich Dir. Daß er ein ganz stattlicher Bursch geworden ist, sagen wenigstens die andern Leute – wie viel ich aber, sowohl durch das viele Bittere und Unangenehme, was ich durchkämpft, wie durch das viele Schöne und Gute, das ich genossen, gelernt und in mir gesammelt habe, wie ich dadurch gereift und fest geworden bin, das fühle ich selbst jetzt recht gut und kann den Vortheil der Reise in dieser Beziehung nicht hoch genug schätzen. Dies möchte ich auch Dir noch besonders dringend ans Herz legen, liebster Vater, der Du, fast wie ich anfangs selbst, zu glauben scheinst, daß so viele Augenblicke der verreisten Zeit nutzlos verloren seien. Ich kann Dir aber von Herzensgrund versichern, daß dies durchaus nicht der Fall ist. Ich könnte eher sagen, daß diese 6 Monate, besonders aber der zweiteb und der sechste, die bestangewandten meines Lebens sind. Meine Reise zerfällt in 2 Theile, einen allgemein menschlichen und einen speciell wissenschaftlichen. Beide, glaube ich, verdienen in gleichem Maaße cultivirt zu werden. Der letztere soll mich aber im Winter in Messina allein beschäftigen, während der erstere jetzt in dem ersten Theil der Reise das Übergewicht gehabt hat. c Obgleich ich aber recht gewünscht hätte, daß ich in den 2½ Arbeitsmonaten in Neapel (wo ich übrigens möglichst fleißig war) mehr Resultate erzielt hätte, so würde ich doch mit diesem 4 monatlichen Aufenthalt in Neapel vollkommen zufrieden sein, selbst wenn jene gleich Null wären. Ich habe den allgemeinen Theil meines Geisteslebens meine Kenntniß der Menschen vor allen, dann aber auch meine allgemeinen naturwissenschaftlichen Kanntnisse, meine Kenntnisse in Geschichte und Kunstgeschichte, Geographie und Ethnographie, etc etc so außerordentlich dadurch bereichert und vervollständigt, daß ich Dir nicht dankbar genug sein kann, daß Du mich diese Reise so in dem von mir selbst vorgestecktem Umfang hast ausführen lassen. Ein jahrelanges Studium aus Büchern würde ja dieses nie ersetzen. Besser einen Monat gereist und lebendige Anschauungen gesammelt als ein ganzes Jahr todte Gelehrsamkeit aus Büchern zusammenstudirtd! || Auf die unmittelbare Anschauung des warmen, vollen Lebens kömmt es ja vor allem an und wo gewinnt man diesen ine weiterm Umfang, in leichterer Weise, als auf Reisen. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie durch diesen ganzen, zum Theil so widerwärtigen, zum Theil so genußreichen Aufenthalt in Neapel meine Lebensanschauungen bereichert sind; besonders aber inf dem letzten Monat seit ich in dem lieben vortrefflichen geistreichen Freunde Allmers Alles doppelt empfinde und genieße. Diese 8 Tage auf Ischia, diese 3 Wochen in Neapel und seiner Umgebung, wo naturwissenschaftliches, künstlerisches, historisches Material in überreicher Fülle auf den Beschauer einströmt, ersetzeng mir Jahre gewöhnlichen Alltagslebens. Ich sehne mich oft recht nach Ruhe und Muße, um dieses Übermaaß der bildensten und veredelndsten Eindrücke gehörig durchzuarbeiten und zu assimiliren. Und andrerseits möchte ich doch grade jetzt um so lieber die Reise in dem jetzt vorgesteckten Umfang vollführen, als ich [mich] grade jetzt in einer Perceptionsfähigkeit dazu, gewissermaaßen in einer Vorbereitschaft dazu befinde, wie sie nie wieder kehren wird. In dieser Beziehung möchte ich Dich dringend bitten, lieber Vater, mir in Betreff der 3–h vierwöchentlichen Rundreise durch Sicilien vollkommen freie Hand zu lassen und vielleicht auch die 3–4 wöchentliche Reise nach dem Atlas zu gewähren. In Betreff der letztern will ich gleich im Voraus bemerken, daß wahrscheinlich aus dem einfachen Grunde der schöne Plan zu Wasser wird, weil die directe Schiffsgelegenheit zwischen Sicilien und Algier, wie uns die jetzt eingegangenen genauen Erkundigungen belehrt haben, äußerst selten ist. Sollte sich aber dennoch eine solche glückliche Gelegenheit finden, so möchte ich i Dich dringend bitten, lieber Vater, mir den Erlaubniß zur Benutzung derselben zu geben. Daß die Sache für mich das höchste Interesse hat und ebenso meiner naturwissenschaftlichen, wie meiner allgemeinen Ausbildung höchst förderlich sein wird, brauche ich Dir wohl nicht erst auseinander zu setzen; ich kann Dir nur sagen daß Allmers durch die Erzählungen eines dort längere Zeit gewesenen Freundes die Sache genau kennt und meine Begierde, diese höchst merkwürdige Natur eines andern Erdtheils kennen zu lernen, aufs höchste gesteigert hat. Allmers ist selbst dabei so unpartheiisch, besonnen und vorsichtig (ganz im Gegensatz zu mir), daß Ihr das vollste Vertrauen zu ihm haben könnt. Besonders bitte ich factische Punkte bei Überlegung des Plans wohl in Erwägung zu [ziehen] || 1. Die Kosten der Reise werden dadurch nicht erhöht – im Gegentheil, das Leben in Algier und dem Atlas ist so lächerlich billig, daß man viel weniger als in Sicilien und Italien überhaupt braucht. Auch die Überfahrtskosten würden, natürlich auf einem Segelschiff, sehr gering sein. 2. Die Zeit der Reise wird dadurch nicht verlängert. Nur wird ein Monat der zoologischen Arbeit entzogen, die ich dann aber um so energischer in den übrigen betreiben werde. Dafür nehme ich aber eine ganze Reihe der merkwürdigsten neuen Anschauungen auf und befriedige einen meiner heißesten Lebenswünsche, die Natur eines andern Erdtheils kennen zu lernen. Komme ich jetzt nicht dazu, so wird nie etwas daraus; denn wenn ich jetzt erst wieder daheim j sitze, komme ich nicht wieder los. 3. Jetzt habe ich alle die Reise erschwerenden Hindernisse überwunden und bin vollkommen dagegen gerüstet. Körperlich bin ich so kräftig, rüstig und frisch, wie fast nie (ausgenommen nach der Alpenreise) und wie ich es auch später nie so sein werde. Ob ich einmal ein paar Nächte auf harter spitzer Lava unter freiem Himmel oder im weichen warmen sichern Bett schlafe, k ist mir ganz einerlei; nach den außerordentlichen Strapazen der letzten Vesuvexcursion, wo ich in der dunkeln Nacht vom 18 zum 19. 7. den höchsten Kegel allein erkletterte und oben übernachtet habe (die Geschichte lief übrigens diesmal ohne meine Schuld so abenteuerlich ab, da ich schon vor Sonnenuntergang oben sein wollte, nähers darüber das nächste Mal!) weiß ich, daß ich meinem grundgesunden und festen Körper Alles zutrauen kann; ich würde wohl schwer einen zweiten finden, der mir dies nach machte – Erkältung kenne ich nicht mehr. Die strapaziösen Touren hier in der Hundstagsgluthhitze haben mich mehr abgehärtet, als es je unsere nordischen Parforce-Touren in den Alpen vermocht haben. Den Einflüssen des heißen Klimas, die der Italiener selbst so sehr fürchtet, trotze ich vollkommen. 4. Demgemäß weiß ich auch meine Bedürfnisse so einfach einzurichten und brauche so wenig daß ich wohl selbst einen deutschen Naturforscher kennen möchte, der in dieser Beziehung meine Genügsamkeit überträfe.

Das klingt aber Alles fast renommistisch – doch muß ich dies sagen, um Dich daran zu erinnern, daß ich auch in dieser Beziehung mich jetzt besser zu einem Ausflug nach Africa gerüstet finde als je. ||

Du fragst in Deinem letzten Briefe, wie es mit dem Geldbeutel steht, lieber Vater? Ich denke, Du wirst damit zufrieden sein. Daß ich sehr oekonomisch lebe, weißt Du sowohl aus meinem Würzburger Studentenleben, wie von meinen früheren Reisen und daß diese Reise den andern, soviel möglich, darin nicht nachsteht, kannst Du denken. Allerdings ist Neapel sehr theuer, viel mehr als Rom und Florenz, und mehr als ich je gedacht hatte. Ich glaube aber kaum, daß Jemand, der Alles das gesehen und durchgemacht, was ich erlebt habe, dies billiger thun kann. Bloß für die gewöhnlichen Lebensbedürfnisse, Wohnung, Nahrung und Bedienung habe ich durchschnittlich 1 Piaster täglich (1 rℓ 10 Sgr) gebraucht, für die übrigen Ausgaben (Trinkgelder an die Museen, Kaufen des Seematerials etc) etwa 3 Carlin (10 Sgr) so daß täglich im Mittel 1 rℓ 20 Sgr, allerhöchstens (mit dem Reisegeld) 2 rℓ herauskömmt. Soviel werde ich auch in Sicilien brauchen, da dort ebenso wie hier infolge der mißrathenen Weinernte Alles viel viel teurer geworden ist. Ich habe bis jetzt zweimal Geld in Neapel aufgenommen, einmal 300 fr (80 rℓ) und dann (vor etwa 4 Wochen) 200 fr (53 rℓ). Bevor ich jetzt nach Capri gehe, werde ich aber für den dortigen Aufenthalt wieder 2–300 fr aufnehmen müssen. Billiger weiß ich mich hier nicht einzurichten, falls ich nicht lediglich von Maccaroni und Melonen leben will. Meine Bekannten brauchen meist 1½–2 mal zu viel l. Dazu mußt Du rechnen, daß viele der Ausgaben, die andere gewöhnlich haben und zu den täglichen Bedürfnissen rechnen, für mich weg fallen, wie Rauchen, Eisessen – Fahren thue ich ebenfalls in der Stadt nie (trotzdem es sehr billig ist) sondern gehe stets zu Fuß. Ebenso habe [ich] auch nie, so lange ich in Italien bin, auf einem Esel geritten, und doch gilt dies bei den meisten Bergtouren für unentbehrlich. Ebenso habe ich fast nie einen Führer genommen, sondern mich stets mit Hülfe einer sehr guten Specialkarte und des Compasses durchgeschlagen und auch die meisten Wege richtig gefunden. || Dann habe ich manchmal, wo das Gasthaus zu theuer war unter freiem Himmel übernachtet, bin auch in letzter Zeit auf der Eisenbahn stets IV Classe (mit den Lazzaronis) gefahren. Ferner bin ich bloß ein einziges mal ins Theater, auch nie in Concerte (die hier allerdings selten sind) und andere Vergnügungen gegangen. Kurz ich habe überall als povero pittore gelebt, so gut und schlecht es eben gehen wollte. Nimmst Du alles dies zusammen, so kannst Du lange suchen, ehe Du einen Künstler, geschweige denn einen andern Forestiere, – noch dazu einen, dem der Tedesco trotz der kurzgeschnittenen Haare und der dunkelbraun verbrannten Haut unverkennbar aus den Augen schaut – findest, der das Gleiche mit so äußerst wenigen Mitteln leistet. Ich habe Dir meine gewissenhafte strenge Sparsamkeit in ihrem ganzen Lichte dargestellt, lieber Vater, weil Du es so wolltest, und damit Du siehst, daß Du dem gegenüber auch wohl Einiges mehr frei geben kannst, wenn die africanische Reise selbst wirklich etwas mehr kosten sollte, was aber gewiß nicht der Fall sein wird. Daß von Dir, liebe Mutter, geäußerte Bedenken, daß wieder meine Docentenlaufbahn dadurch hinausgeschoben würde, ist durchaus ungerechtfertigt, da ja die Reisezeit gar nicht dadurch verlängert wird. Wohl aber dürfte mein Ruf als Naturforscher dadurch bedeutend gewinnen und ich so noch eher zu einer Professur kommen. Endlich vergeßt nicht, daß ich nie einen trefflicheren Reisegefährten als den lieben Allmers finden würde, der jetzt auch noch in gewisser Beziehung mein Mentor geworden ist, da ihm seine 14 Jahre mehr ein gutes Quantum von Ruhe, Mäßigung und Besonnenheit, aber auch Langsamkeit und Bequemlichkeit mehr geben, als ich besitze. Dies bedenktm wohl und dann, bitte, bitte erlaubt mir die Reise n in jenem (obwohl unwahrscheinlichen) günstigen Falle.

‒ Noch einen herzlichen Gruß und Dir liebste Mutter, von Herzen gute Besserung schickt Diro Euer p treuer Junge E. H.

a gestr.: ihr; eingef.: mir; b gestr.: dritte eingef.: zweite; c gestr.: Ich; d korr. aus: zusammenzustudirt; e eingef.: in; f gestr.: seit; eingef.: in; g korr. aus: ersetzten; h eingef.: 3–; i Dittographie: ich; j irrtüml.: ich; k gestr.: ich; l gestr.: und; m korr. aus: ueberdenkt; n gestr.: un; o eingef.: Dir; p gestr.: Dein

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
27.07.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 39195
ID
39195