Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Pertisau, 5. September 1867

Pertisau am Achensee 5 Sept. 67

Liebste Eltern!

Seit wir am 28 Aug. vom Walchensee aus an Euch schrieben, habe wir eine Reihe herrlicher, sehr genußreicher Tage verlebt. Der 28. und 29. Aug. waren 2 arge Regentage, welche wir zum Ausruhen an dem stillen Ufer des großartigen einsamen Walchensees benutzten. Am 30. Aug. war wieder, wie vorher, das schönste Wetter. Wir fuhren von Urfeld am Nordufer des Walchensees nach dem südlichen Ufer desselben in einem Nachen hinüber und wanderten an den malerischen Höhen dieses Ufers umher. Abends am westlichen Ufer zurück. Der Walchensee, sehr wenig bekannt und besucht, gehört zu den großartigsten Alpenseen. Rings ist er von hohen, oft senkrecht abstürzenden, steilen Bergen umschlossen, welche mit prachtvollem alten Hochwald (Tannen, Ahorn, Buchen) bedeckt sind; sehr malerisch.

Samstag 31. August war der Glanzpunkt unserer Reise; wir bestiegen a von Urfeld aus in 3 Stunden den 5400 Fuß hohen Herzogstand, einen isolirten Berg mit prachtvoller Aussicht, welche fast derjenigen von Schafberg und Rigi gleich kömmt. Nördlich übersieht man einen großen Theil der bairischen Hochebene und viele große Seen (Starnberger, Ammer-, Staffel-, Ried-, Kochelsee) östlich Walchensee und Jachenau, südlich die Hochalpen und Schneeberge des nördlichen Tyrols mit ihren Gletschern (Venediger, Zemmer, Stubayer, Alpeiner Ferner) westlich die Kalkalpen von Partenkirchen und den Haimgarten. b Wir verweilten auf dem Gipfel 3 Stunden. Auch der Hinaufweg ist sehr schön, durch prachtvollen Wald. Dabei steigt er höchst bequem, ganz allmählig hinan, so daß Agnes ohne alle Mühe hinauf und hinunter zu Fuß ging. ||

September

Sonntag 1 Sept. verließen wir am frühen Morgen beim schönsten Wetter den herrlichen, uns sehr lieb gewordenen Walchensee, und das kleine einfache Bauernwirthshaus „Zum Jäger am See“, in welchem wir 4 Tage zugebracht hatten. Das Dorf Urfeld besteht bloß aus diesem Wirthshaus und aus einem Fischerhaus. Wir fuhren in einem netten offenen Einspänner von 9–12 Uhr durch die Jachenau, ein stilles, schönes, sehr fruchtbares und wohlhabendes Alpenthal, dessen grüne Wiesenmatten von den prachtvollsten alten Bäumen, vorzüglich Ahorn und Buchen, bedeckt c und gesäumt sind. Nachdem wir beim Pfaffenstöffel“ zu Mittag gegessen, fuhren wir nur in 2 Stunden weiter über Länggries nach Tölz im Isarthal, wo wir um 3 Uhr ankamen. Tölz liegt äußerst malerisch, da wo das Isarthal in die Ebene tritt, reizend von schönen Bergen umgeben. Den schönsten Blick hatten wir von der Höhe des Calvarienberges auf die reizende Stadt und das freundliche weite Thal. Auch aus dem Garten unseres Gasthofs, des „Bürgerbräu“, hatten wir einen sehr schönen Blick.

Montag 2. Sept. fuhren wir Morgens in 4 Stunden (von 7–11) im offenen Omnibus durch reizende Voralpengegend von Tölz nach Miesbach (von wo eine Eisenbahn nach München geht). Die Reisegsellschaft war sehr nett, ganz vorzüglich ein sehr liebes altes Münchener Ehepaar, Apellat. Ger. Director von Gombach, ein Pathe von Bezold, ehemals Abgeordneter zum Frankfurter Parlament. Wir wureden sehr genau bekannt. Von Miesbach fuhren wir Nachmittags im Omnibus bei großer Hitze in 2 Std. nach dem reizend lieblich gelegenen Schliersee. || Vom Dorfe Schliersee, wo wir nur kurz verweilten, fuhren wir über den südlichen Theil des Sees im Nachen nach dem Freudenberg hinüber, einem reizenden Hügel mit Caffeehaus am westlichen Seeufer, wo ich ein Aquarell machte. Abends 6 Uhr fuhren wir von da in einem Nachen über den ganzen Schliersee hinüber nach dessen oberen südlichen Ende, wo wir in dem einsam gelegenen Neuhaus, im Angesicht des prächtigen Wendelsteins, übernachteten. Es war ein herrlicher Mondschein-Abend.

Dienstag 3 Sept. wanderten wir bei einem herrlichen Morgen in 4 Stunden über die Kühzagelalp [!] durch prachtvollen alten Hochwald, d später durch ein reizendes, parkähnliches Thal, nach Tegernsee hinüber, welches Agnes wegen seines lieblichen Ufers, mit Villen und Gärten gesäumt, besonders gefiel. Ich erquickte mich (wie in allen bisher besuchten Seen) durch ein köstliches kaltes Schwimmbad. Nach Tisch fuhren wir im Omnibus von Tegernsee in 2 Stunden durch das Achenthal nach Bad Kreuth, wo wir übernachteten. Dieser steife langweilige, vornehme Badeort mißfiel uns sehr; großer kasernengleicher Gasthof mit alle der Langenweile und ekelhaften Cultur der Bäder.

Mittwoch 4 Sept. Morgens in 4 Stunden per Omnibus von Bad Kreuth durch das düstere wilde Achenthal nach dem Achensee. Bei Achenwald überschritten wir die bairisch-Tyroler Grenze und betraten Tyrol. Den Achensee hatte ich seit meiner ersten Alpenreise (1855) nicht wieder gesehen. Er ist einer der schönsten Seen, prachtvoll dunkelblau, und von sehr mannigfaltigen Ufern umgeben. Wir aßen zu Mittag in der Scholastica, einem Gasthof am nördlichen Seeufer, und || fuhren Nachmittags in 1 Stunde im Nachen über den herrlichen See nach der Pertisau hinüber, einem grünen lieblichen Vorland am südwestlichen Seeufer, wo die hohen Felsengebirge, die rings den See umgürten, zurücktraten, und einem reizenden anmuthigen Mattenland Platz machen. Hier steht ein großes, einem Kloster gehöriges Stift, welches jetzt eine Menge Sommerfrischgäste beherbergt. Große Table d’hote von mehr als 100 Personen, sowie aller Ekel der hochcivilisirten Menschheit, machten uns den Aufenthalt daselbst höchst langweilig und unangenehm, trotz der herrlichen Blicke nach allen Seiten, über den See und auf die umgürtenden Hochgebirge. Doch mußten wir 2 Tage in der ### aushalten, da den ganzen 5ten September das traurigste beharrlichste Regenwetter anhielt. Auch noch am folgenden Morgen Freitag 7 Sept. regnete es stark; Mittags klärte es sich auf; wir fuhren im Nachen über die südliche Seespitze und gingen dann in 1 Stunde durch eine herrliche großartige Schlucht von Buchen nach Jenbach hinunter. Jenbach ist Eisenbahnstation im Innthal, herrlich gelegen. Wir bestiegen dort den Omnibus, welcher uns in 4 Stunden durch das Zillerthal nach Zell führte.

Samstag 8. Sept. Früh wanderten wir von Zell in 2 Stunden zu Fuß durch das obere Zillerthal, nach Mayrhofen, welches ganz prächtig in einem tiefen Thalkessel liegt, umgeben von einem Kranze sehr hoher (8-10,000 hoher) Berge, e sehr steil abfallend und mit Eis und Schnee gekrönt.

Es ist ein prächtiges Standquartier für Excursionen in das oberste Zillerthal, da sich hier 4 milde großartige Thalgründe in einem Punkte zusammenfinden.

a gestr.: den; b gestr.: Der; c gestr.: sind; d gestr.: nach; e gestr.: ste

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
05.09.1867
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 39082
ID
39082