Ernst Haeckel an Agnes Haeckel, Viesch, 29. August 1873

Viesch im oberen Wallis

29/8 73

Mein liebes Röschen!

Da ich vermuthe, daß Dir mein vorgestriger, in großer Eile geschriebener Brief zu kurz und namentlich „ohne Gefühl“ erschienen ist, so will ich Dir zartbesaiteten Seelchen nun heute gleich wieder schreiben, und dir sagen, daß ich mich bereits wieder auf die Heimkehr freue und mich sehr nach meinem süßen Frauchen und meinen beiden Kinderchen sehne. Es ist doch und bleibt doch am allerbesten zu Hause! ||

Den Hauptzweck meiner Reise, einmal tüchtig wieder zu laufen und Bergluft zu schlucken, hoffe ich zu erreichen und zur Hälfte bereits erreicht zu haben. Aber ich merke, daß ich ein alter Mann werde! Das Steigen und klettern wird mir viel saurer als früher; und Bergtouren, welche ich bei meiner letzten Alpenreise, auf unserer Hochzeitreise noch leicht machte, bringe ich kaum mehr zu Stande. Alle Strapatzen empfinde ich viel mehr als früher. ||

Was die Naturgenüsse betrifft, so merke ich, daß ich doch etwas blasirt geworden bin. Die Alpen-Natur entzückt mich weit nicht mehr so, wie früher, wie z. B. auf unserer Hochzeitreise. Die Schönheiten der südlichen Natur, die ich dies Jahr im Orient so herrlich gesehen, stehen mir höher. Übrigens gehört der Theil der Schweiz, den ich jetzt besuche, und den ich noch nicht kannte, zu den schönsten. Bei dem schönen Wetter, das ich bisher hatte (nur zu heiß!) nahm sich Alles sehr frisch aus! ||

Die schönsten Tage waren vorgesterna, wo ich das Furca-Horn bestieg und gestern (am Rhone Gletscher). Im Rhone-Thal bin ich gestern bis Viesch gekommen, werde morgen noch nach der Grimsel und dann (in 2 Tagen) nach Luzern gehen, wo ich sicher die sehnsüchtigst erwarteten guten Nachrichten von Dir und den Kindern zu finden hoffe. Nach Empfang dieses Briefes schicke mir nur noch einen nach Constanz am Bodensee, poste rest. Wenn es etwas sehr Eiliges zu melden giebt, telegraphire nach Luzern. In 14 Tagen hoffe ich wieder bei Euch Lieben zu sein.

Hoffentlich seid Ihr alle Drei wohl! Mit den herzlichsten Grüßen und Küssen

Dein treuer Ernst.

a korr. aus: gestern

Brief Metadaten

ID
38987
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Viesch
Entstehungsland aktuell
Schweiz
Entstehungsland zeitgenössisch
Schweiz
Datierung
29.08.1873
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,8 x 21,7 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38987
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Agnes; Viesch; 29.08.1873; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_38987