Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte Haeckel, Jena, 20. Juni 1881

Jena 20. Juni 81

Liebste Mutter!

Leider erfahre ich durch Carl, daß auch Du in den leidigen Erbschafts-Streit mit verwickelt und durch Gertrud Sethe direct interpellirt worden bist. So wie die Sachen jetzt liegen, hielt ich es für unumgänglich, die (in Abschrift beifolgende) Erklärung zu den Acten zu geben, sowie auf meinen Antheil an der Erbschaft zu Gunsten von Carl’s Kindern a Verzicht zu leisten. Wenn sich die baare Masse (was ich nicht erwarthe) schließlich doch als sehr beträchtlich herausstellt, so wird es billig sein, meinen Antheil zwischen Carl’s und meinen Kindern zu theilen. Das geht aber die Anderen zunächst Nichts an! ||

Ich bitte Dich dringend, liebste Mutter, Dich durch die bedauerlichen und höchst unerfreulichen Vorgänge nicht irritiren zu laßen. Du weißt, daß ich alle gethanen Schritte in der besten Abicht gethan und daß ich eigentlich für die Anderen „die Kohlen aus dem Feuer b geholt“ habe. Leider fürchte ich, daß Tante Bertha durch ungeschickte Zwischen-Trägerei Vieles verdorben hat. Das Zerwürfniß mit Heinrich, das alle Anderen als ein schreckliches Unglück zu betrachten scheinen, ist meinem Herzen, wie meinem Verstande ziemlich gleichgültig. Freilich ist Heinrich der Bruder meiner theuren Anna, aber ein Bruder, der keiner Zeit innige brüderliche Gesinnung bewiesen hat. || Die idealen Güter, für welche ich Zeit meines Lebens kämpfe und für die ich Alles einsetze, Förderung der Wissenschaft und Wahrheit, sind für H. Gegenstände mitleidiger Verachtung, für die er stets nur Achselzucken und Spott übrig hatte. Ebenso sind seine Ehr-Begriffe diejenigen eines Corps-Studenten geblieben, für welchen leichtsinniges Schuldenmachen und übermäßiges Trinken höchst ehrenhafte Tugenden sind. Sowohl Carl als mich hat H. eigentlich stets als „Simpel“ oder „Philister“ betrachtet. Was verliere ich also, wenn ich Zeitlebens nicht mehr mit mit ihm verkehre? Unsere Anschauungen und Überzeugungen sind so verschieden, daß eine wirkliche Verständigung ohnehin nicht möglich ist. || Die ganze Geschichte hat mich schließlich mit einem wahren Ekel erfüllt! Wie froh bin ich, nicht dauernd unter dieser lieben Verwandtschaft in Berlin zu leben!

– Thu’ mir nun die Liebe, beste Mutter, und ärgere Dich nicht weiter über all’ den Kram. – c Es war doch sehr hübsch, daß wir in Berlin auf die 8 Tage zusammen waren. Hoffentlich ist Dir die Ruhe gut bekommen und Du sitzt wieder behaglich in Deiner Wohnung und genießest den Garten. Hier ist Alles wohl.

Mit besten Grüßen von Agnes und den Kindern

Dein treuer Ernst.

Die „Erklärung“ hebe ich Dir auf.

a gestr.: z; b gestr.: Anführungszeichen; c gestr.: Ich

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
20.06.1881
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38853
ID
38853