Ernst Haeckel an Charlotte Haeckel, Jena, 16. Mai 1880
Jena 16 Mai 80.
Pfingstsonntag Nachmittag
Liebste Mutter!
Ich benutze die erste ruhige Stunde, die ich seit 8 Tagen genieße, um Dir einen herzlichen Pfingstgruß zu senden, und für Deinen lieben, heute früh eingetroffenen Brief zu danken. Die verflossene Woche gehört zu den unruhigsten, die ich seit langer Zeit erlebt habe, und ich bin froh, daß sie vorbei ist. ||
Erst kam heute vor 8 Tagen der Tod meiner armen Schwiegermutter, der natürlich viel Unruhe und Störung brachte, trotzdem er lange erwartet war. Schwager Reimer’s und Otto H. trafen Dienstag ein, auch unsere andern Verwandten. Mittwoch früh war das Begräbniß. Donnerstag ordneten wir die wichtigsten Nachlaß-Angelegenheiten. Das Haus soll verkauft werden.
Der mütterliche Nachlaß von Vermögen wurde sogleich in 4 gleichen Theile vertheilt, jeder zu (4) viera tausend und einige hundert Thaler. ||
II
Zwischen diese Familien-Angelegenheiten kam am Montag an mich der Antrag, ich möchte einen Theil meiner Sammlung auf die hiesige „Erste Thüringer Fischerei-Ausstellung“ schicken, welche vom 13 – 15. abgehalten wurde.
Ich mußte, da ich aus mehreren Gründen den dringlichen Antrag nicht gut ablehnen konnte, mehrere Tage darauf verwenden, einen Theil meiner Seethier-Sammlung (– Auswahl des Interessantesten aus allen Classen –) – hierfür zurecht zu machen. –||
Die Ausstellung der lebenden Fische (– sehr mäßig, nicht mehr als ein guter Fisch-Markt! –) fand im Hôtel zur Sonne statt. Mir selbst war der anstoßende große Billard-Saal eingeräumt. Mit Hülfe meines guten Assistenten Hamann und meines Lithographen Giltsch arrangirten wir eine sehr hübsche Auswahl nach beifolgendem Plan. Sie fand großen Beifall und wurde allgemein als der Glanzpunkt der Ausstellung bezeichnet. ||
III.
Am Donnerstag, bei der feierlichen Eröffnung der Ausstellung, führte ich den Großherzog 1 Stunde darin umher, am Samstag den Erbgroßherzog ebenfalls eine Stunde. Beide waren sehr liebenswürdig und überhäuften mich mit Lobsprüchen. Bei der großen Festtafel in der Sonne brachte der Landkammerrath Leiter einen Toast auf den „Hochberühmten Professor“ aus, der die „größte Zierde von Jena“ sei u.s.w. u.s.w. kurz lauter Dinge, die Dein Mutterherz sehr erfreut hätten, mir aber doch etwas zu stark waren! ||
– Clara wird Anfang Juni mit Marie und deren Kindern nach Heringsdorf (auf 6 – 7 Wochen) gehen. Anfang August kommt Clara zurück und will dann unsere Kinder auf 5 – 6 Wochen übernehmen, während ich mit Agnes (bis Mitte September) in die Alpen gehe.
– Agnes kömmt mit den 3 Kindern im Juli auf 10 – 14 Tage zu Dir nach Potsdam.
– Marie geht (mit Gretchen), übermorgen nach Berlin zurück. Morgen wollen wir Alle zusammen (mit den Kindern) einen Besuch in Gera bei Otto machen. ||
IV.
Das Pfingstwetter ist hier ganz prachtvoll. Heute Morgen habe ich mit Walter einen herrlichen Spaziergang durch den Ziegenhainer Forst nach dem Luftschiff gemacht, am Fürstenbrunnen zurück. Es war in diesem Jahre das erste Mal, daß ich den Frühling in unserm lieben Saalthal genoß. Übermorgen will ich mit Walter auf 2 – 3 Tage nach Ziegenrück und vielleicht nach Schwarzburg, wenn das Wetter gut ist. ||
– Gestern Abend sah ichb eine Anzahl früherer Schüler, die vor 10 Jahren hier studiert haben, darunter Dr. Fleischer, Schuck und Dr. Wegscheider aus Berlin, letzterer mit seiner jungen Frau, geb. Bertha Richter. –
Überhaupt hatte ich diese Woche viel Besuch!
Bitte, mache auf meine Kosten mit Tante Bertha, die ich herzlichst grüße, ein paar Spazierfahrten bei dem schönen Wetter!
Agnes grüßt herzlich und schreibt nächstens.
Mit innigsten Grüßen
Dein treuer alter Ernst
a eingef. mit Einfügungszeichen: vier; b gestr.: lernte ich