Ernst Haeckel an Charlotte Haeckel, Jena, 3. Mai 1875
Jena
Montag 3 Mai 75
Liebste Mutter!
Der Postkarte, die Dir gestern meine glückliche Rückkehr nach Jena meldete, lasse ich heute in Eile noch einige Zeilen folgen. Da morgen a meineb Vorlesungen anfangen und ich einen entsetzlichen Berg von Briefen, Büchern und anderen Zusendungen hier vorfand, kann ich Dir zwar nicht ausführlich schreiben, aber Du wirst doch gerne hören, daß ich neu gestärkt und mit frischem Muth nach Jena zurückgekehrt bin, das ich vor 2 Monaten in sehr düsterer und deprimirter Stimmung, matt und krank verlassen hatte. || Die Reise ist mir ausgezeichnet bekommen und ich fühle mich körperlich und geistig neu geboren.
Leider fand ich meine Familie – die bis vor 14 Tagen ganz gesund war, schon wieder erkrankt vor; Agnes und alle drei Kinder mit tüchtigem Catarrh und Husten; klein Emma recht jämmerlich und giegig; sie schläft sehr unruhig und läßt auch Agnes nicht schlafen, die dadurch recht angegriffen ist. Am meisten herunter ist Walter, bei dem sich seit 8 Tagen der echte Keuchhusten mit allen seinen unangenehmen Folgen entwickelt hat. Er wohnt bei Großmutter Emma, um ihn von den anderen Kindern abzusperren und deren Ansteckung zu verhüten. Aus unserem schönen Project, || Dich zu Pfingsten a mit der ganzen Familie zu besuchen, wird nun leider wieder Nichts! Doch denke ich jedenfalls auf ein paar Tage allein zu Dir zu kommen. Wir hoffen nun, den Familien-Besuch in Potsdam im Herbste nachzuholen, und dann auf längere Zeit!
Meine Rückreise durch Ober-Italien war ein wahrer Triumphzug! Ein so enthusiastischer Empfang, wie von den Universitäten Bologna und Modena, ist mir bisher noch nicht zu Theil geworden! Er entschädigt mich reichlich für die zahlreichen Angriffe, die Neid und Mißgunst der deutschen Collegen mir bereiten. Auch die schönen Eindrücke, die Natur und Kunst in Florenz, Bologna, Verona, Bozen, mir wieder hinterlassen, haben mich recht erquickt. || Sobald es wärmer wird, liebste Mutter, rechne ich darauf, daß Du nach Jena kommst und ein paar Monate bei uns bleibst. Ist es Dir lieber, daß ich Dich dann (vielleicht im Juni) abhole, so unterlasse ich den Pfingst-Besuch. Ich denke, der Sommer soll nach dem abscheulichen Winter recht schön werden.
An Karl und seine Familie, sowie an Tante Bertha herzlichste Grüße. Mit innigem Kusse Dein treuer alter Junge
E. H.
a gestr.: die; b eingef. mit Einführungszeichen: meine