Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Merseburg, 24. Januar 1852

Merseburg, Sonnabend

Vormittag, 24/1 1852

Liebste Ältern!

In dem Augenblick, ehea ich euren sehnlichst erwarteten Brief erhielt, war ich schon im Begriff, euch zu schreiben, und nur der Gedanke hielt mich zurück, daß Eichhoff, der wohl heute oder morgen kommen wird, mir einen mitbringen könnte. Ich habe unterdeß eine der gräßlichsten Wochen meines Lebens hinter mir gelassen. Zur Beruhigung will ich euch im Voraus schreiben, daß ich heute, Sonnabend, wieder ganz wohl und munter bin. Gestern Nachmittag vor 8 Tagen reiste Eichhoff, wie ihr wißt, von hier nach Berlin ab. Wie ich ihn beneidete, könnt ihr euch denken; b ich ging auch nicht mit auf den Bahnhof, um mir das Herz nicht noch schwerer zu machen, und in Versuchung zu kommen, mitzufahren. Als ich aber nun in der Dämmerung so am Fenster stand und den Zug fortfahrn sah, bekam ich so schreckliches Heimweh, daß ich mich aufs Sopha hinlegte, und bitterlich und recht von Herzen mich ausweinte. Darüber schlief ich endlich ein. Als aber Weiß und Zierhold Abends zu Haus kamen und ich darüber aufwachte, fühlte ich Schmerzen im rechten Knie; auch war es c links nach Innen zwischen dem Rand der patella und der linken Seite der femur etwas geschwollen. Da ich mich den Tag vorher etwas daran gestoßen und diesen Schmerz auch sonst schon öfter gehabt hatte, dachte ich, es würde vorüber gehn. Den andern Morgen aber, als es noch dicker geworden || ging ich zu Basedow, der ein sehr bedenkliches Gesicht machte und mir 3 mal täglich 15 Tropfen Colchicum in Madeira einzunehmen und eine Ammoniakauflösung zum Einreiben verschrieb. Auch sollte ich mich gleich zu Bett legen. Sonntag früh kam er her und verordnete kalte Wasserumschläge um das Knie, durch die es zum Schwitzen gebracht werden sollte; diese habe ich auch bis gestern gebraucht und sie haben wohl vorzüglich die Genesung mit herbeigeführt. Seit gestern muß ich Jodtinctur auf das Knie pinseln, um die etwaigen Reste noch zu vertheilen. Wie schrecklich mir Sonnabend und Sonntag zu Muthe war, könnt ihr kaum denken. Erstens war Sonnabend Schlachtefest bei Osterwalds, und die Mädchen die auch sonst so unordentlich und faul sind, hatten nun vollends keine Zeit. Mein Stubenbursche Weiß, ein an und für sich vielleicht recht guter Mensch, aber wenigstens ein halb gefühlloser Sack und Holzklotz that kaum das, worum ich ihn bat, geschweige daß er mir von selbst einen Gefallen gethan hätte. Ich mußte also alles womöglich selbst thun. Dabei war ich schrecklich hypochondrisch, dachte mir, es würde dieselbe Geschichte, wie bei Finsterbusch werden, vielleicht würde ich gar nicht wieder gesund, ich könnte jetzt das Examen nicht mit machen, und dann hatte ich mir vorgenommen, Apotheker zu werden, u. s. w. Kurz, ich war bis Montag früh in völliger Verzweiflung. d Montag aber überfiel mich eine solche Apathie, daß mir nun alles völlig einerlei war, und ich mich, indem ich Tante Berthas Beispiel vor Augen hatte, jetzt ohne Weiteres in Alles ruhig hätte fügen können. || Seit Montag ging es aber immer besser. Osterwald war sehr freundlich; auch Basedow war sehr sorgsam und kam fast täglich. Gestern war er voller Freude und sagte ich sollte euch nur schreiben, daß er vom Schiffseigenthümer Nachricht erhalten, daß Johns Schiff glücklich in Lima angekommen; er selbst wollte euch erst schreiben wenn e er von John selbst einen Brief bekommen hätte.

f Unsern Freunden hatte ich nichts sagen lassen, daß ich krank wäre. Zuerst erfuhr es Madam Merkel, die außerordentlich sorgsam war und mich alle Tage treulich besuchte und mir zu helfen bemüht war. Simons, Kathens und Karos erfuhren es erst vorgestern. Namentlich waren Karos sehr böse, daß ich nichts hätte sagen lassen; sie sagte, wenn sie es nur gewußt hätte, würde sie mich gleich zu sich haben hinbringen lassen, um mich ordentlich zu pflegen. Sie die Osterwald selbst war zu schüchtern, um heraufzukommen; und so war die Pflege allerdings fast gar nicht vorhanden. Alle, Osterwald, Basedow, u. s. w. riethen mir übrigens, euch nicht eher zu schreiben, als bis g ich entschieden genau wüßte, ob es noch lange dauern h würde oder ob ich bald wieder heraus könnte. Im erstern Falle, liebe Mutter, würdest Du Dich wohl von mir haben erbitten lassen, herzukommen und deinen alten Jungen selbst zu pflegen?! Nun ist es aber, Gott sei Dank! seit gestern schon wieder so gut, daß ich heute bei dem schönen Wetter ausgehe und die steifen Glieder wieder etwas in Bewegung bringen soll. Dein Herkommen wäre daher eben so unnütz, meine liebe Alte, als wenn Du Dich jetzt noch ängstigen wolltest. Du würdest mich dadurch höchstens noch stören, da entweder schon übermorgen, oder Montag über 8 Tage die schriftlichen Examen Arbeiten statt finden sollen. ||

Ich soll übrigens den Winter über noch Leberthran trinken. Basedow meinte, zumal da ich auch im anderen Knie und sonst in den Gliedern und Gelenken etwas Schmerzen hatte, es würde wohl mit von meinem raschen Wachsthum hergekommen sein, weil die Gelenke sich nicht gleich so rasch i und stark ausbildeten, als die Glieder lang würden. – Daß Philipp den Theilj seiner Examina glücklich bestanden, freut mich außerordentlich, ich grüße ihn herzlich, sowie Tante Bertha, meinen lieben Karl (an den ichk erst zuerst schreiben wollte, um euch nicht direct zu erschrecken) u. s. w. Übrigens ist mir die Zeit seit Montag nicht lang geworden; namentlich habe ich einen großen freien Aufsatz gemacht (er ist im Concept 5 Bogen lang) „über den Einfluss der größern norddeutschen Pflanzenformationen auf den Charakter der Landschaft“, wobei ich Humboldts Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse (Ansichten der Natur Band II) zu Grunde gelegt habe. Sonst hab ich noch mit Hetzer, der immer sehr freundlich und sorgsargsam [!] mich besuchte und pflegte, Sophoclis Οιδίπους τύραννος privatim gelesen. Den Schleiden brauchst Du erst später zu schicken, da Osterwalds Geburtstag erst den 26ten Februar ist. –

Nun bitte ich euch nur, liebe Eltern, daß ihr euch nicht mehr um mich ängstigt, zumal, da ich l aus euren Briefen sehe daß ihr Trübsal genug habt; thätet ihr es, so würde es mich reuen, euch geschrieben zu haben.

Sollte es, was Gott sei Dank nicht zu befürchten steht, wieder schlimmer werden, so schreibe ich euch alsbald. – Du, lieber Vater, kannst mir einmal ordentlich von den akademischen Vorlesungen schreiben.

Mit 1000 Grüßen und Küssen euer alter EH.

N. B. Ist denn Petermann und Örsted zum Buchbinder besorgt worden? m ||

Papa soll nur nicht vergessen, am 29/1 nach Dresden zu schreiben. Ich denke dann auch an ihn!n

a gestr.: wo; eingef.: ehe; b gestr.: als; c gestr.: rechts w; d gestr.: Da aber; e gestr.: ich; f gestr.: Vor; g gestr.: euch; h gestr.: d; i gestr.: so; j eingef.: den Theil; k eingef.: ich; l gestr.: mich; m Text weiter am Rand von S. 2: N. B. … besorgt worden; n Text weiter am Rand von S. 1: Papa soll … an ihn!

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
24.01.1852
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38749
ID
38749