Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel sowie an Karl Haeckel und Hermine Sethe, Merseburg, 7. Oktober 1851

Merseburg, den 7ten October 1851 Dienstag.

Liebste Ältern und Geschwister!

Da ich unter den bis jetzt verlebten heute den leidlichsten Tag habe, nachdem gestern der unerträglichste war, so setze ich mich sogleich hin, um euch auf alle eure Briefe, die mir die gröste Freude gemacht haben, mit einem zu antworten. Als ihr am Sonnabend früh fortfuhrt, war mirsa, als führe alles, was ich hier bis jetzt liebes und gutes gehabt, für immer fort, und als bliebe ich allein in einer ganzen Welt von Feinden zurück. Das düstre Wetter paßte recht zu meiner Stimmung und ich schaute, als ich zu Hause in meiner Stube war, noch lange aus dem Fenster auf unserb altes Haus, das mir ganz vereinsamt vorkam. Jedoch besann ich mich und las hintereinander ein ganzes Buch Ilias, was mich etwas umstimmte. Sonntag ging es auch leidlich. Früh ging ich bei Braun in die Kirche, der am Erntefest über die vierte Bitte predigte, besonders gegen den aufkommenden Getreidewucher und die Unzufriedenheit mit der Ernte. Nachmittags nahm ich von Zurmeyers (Hulda reist Montag, sie selbst heute früh weg) Abschied und ging dann mit Finsterbusch über Meuschau spazieren. Abends kam Weiß von Schkeuditz zurück. Gestern Montag war ich in einer schrecklichenc Stimmung d die Weiß, der ziemlich unartige Laune hatte, noch vermehrte, und obgleich noch frei war, konnte ich doch den ganzen Tag nichts arbeiten, obwohl ich mich hinsetzte und mir alle Mühe gab. Es war mir grade als könnte ich hier gar nicht mehr bleiben und leben, und beständig war ich bei euch. || Endlich ging iche mit Lüben nach Zscherben spazieren wo ich eine neue Chenopoden fand, die mich auf etwas andre Gedanken brachte. Gestern Regen, heute Sonnenschein. Glaubte ich gestern alles mögliche Unglück zu haben, so hatte ich heute ziemliches Glück. Früh beim Schulanfang wurden die Censuren vertheilt, wobei ich selbst die nebenstehende, von mir selbst als Wieck beglaubigte erhielt, mit der ihr hoffentlich leidlich zufrieden sein werdet.

Censur: Ernst Häckel

Recht gut: Deutsch, Naturwissenschaft, Anlagen, Aufmerksamkeit, Fleiß

Sehr wohl zufrieden: Religion

Wohlbefriedigend: Verhältniß der Leistungen des Schülers zu dem Klassenziel

Gut: Griechisch, Geschichte, Betragen

Gut, aber der schriftl. Ausdruck muß noch gewinnen: Latein.

Im Ganzen Gut: Französisch, Mathematik.

Wieck.

Sodann bekam ich die lateinische Arbeit zurück, „die zwar die nöthige logische Schärfe und Präcision vermissenf läßt, sonst aber Fortschritte bekundet“ und der alte Wieck hielt dann eine große Paucke über den Schüler, wie er sein soll, daß nur durch fortwährende logische Recapitulation man den römischen Geist in sich aufnehmen könne, daß nur, wenn man den Tacitus auswendig wisse, man lateinisch schreiben könne, daß, wenn nur einer in der Klasse aufpaßte er um dieses einen willen recapituliren und die andern sitzen lassen würde (Seitenhieb für mich und Karl) und was dergleichen oft abgedroschner Kohl mehr ist. Auf der Schule ist heute ein neuer Kandidat der Mathematik und Physik, Puls, angekommen, der Sexta mit übernehmen wird. Mit meinen Stubenkameraden bin ich übrigens ziemlich zufrieden. Ernst Weiß ist zwar ein bischen eigensinnig und öfter unerträglich aber doch gutmüthig und oft recht trocken u. komisch. Eichhoff ist ein merkwürdiger Mensch, über den ich auch nächstens weiters schreiben will. Er hat eine der besten Censuren bekommen. Zierhold, ein gutmüthiger || etwas schwärmerischer Jüngling, hat so heute, wie ich gestern, schreckliches Heimweh und miseria felina moralis (auf Deutsch: geistigen Katzenjammer). Am meisten Laune in unser sonderbares vierblättriges Kleeblatt bringt Osterwalds drolliger schwarziger Pudel, unsre beständige Gesellschaft der aber auch alle unsre Dummheiten und Launen ertragen muß. – Die Bestellung und den Brief zu Basedow habe ich besorgt. Als ich von ihm wegging, lief ich in Gedanken bis zu Wiegners Haus, dann merkte ich erst, daß ich in der Rittergasse auf falschem Wege sei, ging nun aber doch bis zur Hütte, g besuchte Merkels und trank von unserm köstlichen Brunnenwasser (das bei Osterwalds ist sehr schlecht). Überhaupt werde [ich] öfter hingehen und noch den Garten besuchen. || Doch für heute genug, da der Briefbogen alle ist; das nächstemahl mehr. Dabei fällt mir ein, daß ich wohl kein Postpapier hier behalten habe; diesen Bogen habe ich geborgt. Wenn Mutter einmal schickt, kann sie mir ein paar Bogen schicken, und auch Nähzeug.

Euch allen, dem lieben, treuen Papa, dem ich versichern kann, daß ich den Fuß jetzt ordentlich wickele, meiner einzigen, guten Mutter, dem theuren alten Hofmeister und, wie ich, an Examenfieber leidenden Karl Benjaminh, sowie der Staatsrath Setheschen Archivarin und Bibliothekarin Eleonora Arminia, die herzlichsten Grüße und Küsse. Auch Großpapa und die Pathentante grüßt recht herzlich und wen ihr sonst wollt. Schreibt mir recht bald wieder. Ich will euch auch gleich antworten. Wenn ihr das nächstemal wieder alle 4 schreibt, so sollt ihr auch alle einzeln ein Briefstückchen bekommen.

Ernst H. ||

Hrn. Oberregierungsrath Haeckel

zu

Berlin

Schifferstrasse 6.

a korr. aus: mich; b korr. aus: unsrer; c korr. aus: schrecklichesn; d gestr.: und obgl; e korr. aus: mich; f nach „vermissen“ gestr.: ist; g gestr.: und; h eingef.: Benjamin

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
07.10.1851
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38736
ID
38736