Ernst Haeckel an Charlotte Haeckel, Jena, 16. Juni 1868
Jena 16 Juni 68
Liebste Mutter!
Es gab in den letzten 8 Tagen so Viel zu thun, daß ich nicht zum Schreiben kommen konnte. Sonst geht es uns sehr gut. Agnes ist sehr frisch und munter, und gestern haben wir beim schönsten Wetter sehr vergnügt bei Huschkes im Garten unseren Verlobungstag gefeiert. Agnes sitzt täglich Viel im Garten. Ich dagegen habe sehr Viel mit dem Druck meiner Schöpfungsgeschichte zu thun, von der nun 20 Bogen (2/3) gedruckt sind. –
Am Freitag 5 reiste ich nach Gera, blieb Sonnabend und Sonntag dort, und kam Sonntag gegen Mitternacht wieder hier an. Mein Hauptzweck war, die ausgezeichnete Versteinerungssammlung des Fürsten Reuß in Gera zu sehn, welche reich an Petrefakten ist, die || mich speciell interessiren.
Ich wohnte bei einem dortigen Lehrer, Professor Liebe, einem sehr netten Menschen. Von hier ging ich am Freitag zu Fuß in 5 Stunden nach der Zeitz-Geraer Eisenbahn, über Bürgel und Eisenberga nach der Station Crossen. Am Sonnabend Nachmittag besuchte ich mit Prof. Liebe die sehr hübscheb Umgebung von Gera, das in einem freundlichen Thal an der Elster liegt. Es hat sehr schönen Laubwald. Sonntag Mittag war ich bei dem ersten Fabrikherrn Geras, einem sehr netten und gebildeten Manne, (auch eifrigen Mineralogen) Namens Ferber. Den Rückweg Abends machte ich theils per Post (über S. Gangloff nach Roda) theils zu Fuß. ||
Meine beiden Vorträge „über Entstehung und Ursprung des Menschengeschlechts“ werdet Ihr inzwischen erhalten haben. Es trifft sich hübsch, daß grade die Copernikus’ Theorie jetzt in Berlin durch Knak auf die Tagesordnung gebracht ist. –
Mulders grüßt herzlich von mir. Es würde mich sehr freuen, wenn sie uns besuchten. Mit dem Logiren sieht es allerdings schlimm aus; ich würde sie natürlich mit größter Freude aufnehmen; aber Agnes hat dazu gar keine Lust; und es ist auch wirklich unbequem, wenn sie wieder einmal unwohl wird, was doch dann und wann vorkommt.
Wenn Ihr hier seid, das ist ganz etwas Anderes; da braucht sie sich gar nicht zu geniren; aber bei unbekannten Gästen muss sie sich || doch mehr zusammennehmen; und unser Quartierchen ist dafür etwas eng. – Agnes bittet Dich, Huldac keinenfalls mitzubringen. Bertha bleibt jedenfalls bis Michaelis. Nachdem sie neulich eine gehörige Predigt erhalten hat, geht es jetzt wieder recht gut. – Wenn Louis Mulder die beiden Vorträge interessiren (über das Menschengeschlecht) so schenke sie ihm; ich schicke euch dann ein anderes Exemplar. Schreibe mir nur genau, an welchem Tage ihr kommt; ich schicke Euch dann einen Wagen nach Apolda. d
Sonnabend, Sonntag und Montag habe ich Nachmittags frei und könnte Euch dann abholen in Apolda. Meinen Geldzuschuß bringe mit, liebe Mutter, da in meiner Kasse fast gänzliche Ebbe ist. Grüße die Freunde und Verwandten bestens.
Dein treuer Ernst
a korr. aus: Eisenach; b korr. aus: hübschen; c korr. aus: Bertha; d gestr.: gedruckte Verlobungsanzeige von Anna Droysen mit Dr. Henri Jordan, 17.04.1868 (von Prof. Droysen und Frau)