Ernst Haeckel an Charlotte Haeckel, Jena, 20. Februar 1868
Jena 20 Febr 68
Liebste Mutter!
Am letzten Sonntag habe ich nun mein 34stes Lebensjahr abgeschlossen welches für die Neugestaltung meines häuslichen Lebens so wichtig war. Der Tag war mir, wie Du denken kannst, sehr schwer, wie er es immer bleiben wird. Alle süßen Erinnerungen an meine unvergeßliche und unersetzliche Anna tauchten wieder mit den frischesten Farben auf, eben so wie die grausamen Folterqualen ihres Verlustes. Glücklicher Weise hatte ich den ganzen Vormittag (von 8–1 Uhr) meinen mikroskopischen Sonntags-Cursus zu halten. Um Agnes, die grade sehr unwohl war, nicht durch meine Betrübniß aufzuregen, und um mich an der ewigen Quelle des frischen Lebens, an der schönen Natur, zu stärken, machte ich gleich nach Tisch, von 3–8 Uhr eine starke fünfstündige Wanderung. || Es war sehr schönes Wetter, prachtvolle Abendbeleuchtung, nur dabei ein sehr heftiger Wind, der mir jedoch sehr wohl that. Ich stieg zunächst auf den Jenzig, ging von da um das Hufeisen, bog nordöstlich in das Gleisthal ab, und gelangte hier an einen sehr hübsch gelegenen Ort, den ich noch niemals gesehen hatte: Löberschütz. Von dort wanderte ich in den Tautenburger Wald, und nun über Kurnitz, Zwätzen und Löbstädt zurück.
Diese fünfstündige einsame Wanderung, in der ich mir die schönsten Bilder der verflossenen Zeit zurückrief, that mir sehr wohl. Als ich zurückkam, fand ich Eure lieben Briefe vor, zugleich einen Brief von Lewes, dem berühmten Verfasser von Goethes Leben. Da er Euch vermuthlich freuen wird, lege ich Euch die Übersetzung des wichtigsten Abschnitts bei. Du kannst sie, liebe Mutter, gelegentlich auch Reimers zeigen. ||
Die letzten acht Tage, liebe Mutter, waren für mich recht schwer, einmal wegen der Erinnerung an die früheren Jahre, und sodann, weil Agnes recht unwohl war. Das arme Ding hat nun schon seit fast 14 Tagen jeden Tag 3 oder 4 mal Erbrechen, so daß sie recht nervös herunter kommt. Da sie zum Ausgehen zu schwach ist, liegt sie immer auf dem Sopha.
Glücklicher Weise schläft sie Nachts gut; ist jedoch sehr reizbar und verstimmt. Ich pflege sie nach Kräften, kann sie aber nicht dazu bringen, sich durch eigene Energie etwas zusammen zu nehmen. In diesem Punkte ist sie offenbar sehr verzogen und nicht gewohnt, unabänderliche Umstände mit Geduld und Selbstbeherrschung zu tragen.
Sehr schlimm ist es auch mit dem Essen, da sie nur ganz leichte Sachen verträgt, aber gegen sehr Vieles Widerwillen hat. Sehr gut ist es, daß Mutter || Emma täglich Nachmittags auf 2 Stunden herkömmt. Sie ist sehr verständig und redet Agnes gehörig zu. Sie tröstet mich damit, daß dieser garstige Zustand in einigen Wochen worüber sein werde.
Für Deinen Brief, liebste Mutter herzlichen Dank, ebenso für das Geschenk des Sommer Anzugs, welches ich seinerzeit mit Dank annehmen werde.
Auch Dir, lieber Vater, für Deinen lieben Brief herzlichsten Dank. Es freut mich sehr, daß Du so munter bist und so eifrig in Deinem Studium fortfährst. Ich arbeite jetzt tüchtig an meiner demnächst zu druckenden Schöpfungsgeschichte.
Mit herzlichem Gruß
Euer treuer Ernst.