Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Jena, 17. Februar 1866

Jena 17. Februar

1866.

Liebste Eltern!

Mein 33stes Lebensjahr ist nun begonnen und der schwere gestrige Tag vorüber, welcher mir vor 32 Jahren das Leben gab und mir vor 2 Jahren das beste und liebste Theil meines Lebens raubte. In diesen letzten 2 Jahren, welche so voll schwersten Leides und des tiefsten Schmerzes waren, habe ich mich sehr verändert; und da ja in der Regel das Unglück den Menschen weit mehr bildet und bessert, als das Glück, so bin auch ich in diesen 2 schweren Jahren, a unter dem beständigen Druck des schwersten Unglücks, in ungewöhnlichem Maaße gebildet und gebessert worden. Aus dem unreifen, verwöhnten und weichem Jüngling ist in dieser ungewöhnlich harten Zeit ein reifer, selbstständiger und fester Mann geworden, und ich habe in hohem Maaße gelernt, was ich früher nie konnte: mich beherrschen. ||

Während ich früher immer geneigt war, das Leben mit allzu idealen Augen anzusehen, und während meine Phantasie meistens das Übergewicht über meinen Verstand hatte, hat sich nun das richtige Gleichgewicht zwischen den letzteren hergestellt, und in richtiger Werthschätzung der realen Lebens- Verhältnisse verfolge ich nun mit festem Auge das hohe Lebensziel, welches mir in meiner geliebten Wissenschaft so klar vor Augen gestellt ist, und zu dessen Erreichung eine eigenthümliche Vereinigung bestimmter Fähigkeiten und Talente mich besonders tauglich machen. Da ich in den letzten beiden Jahren sehr viel Objectivität gewonnen habe, die mir früher so sehr fehlte, so kann ich jetzt diese meine individuellen Lebensbeziehungen weit richtiger schätzen, als früher der Fall war, und da ich durch fortgesetzte Übung einen festen und furchtlosen Willen gewonnen habe, mein Lebensziel in der Wissenschaft rücksichtslos zu verfolgen, so hoffe ich, daß mir dies gelingen wird. ||

Wenn ich zurückdenke, in wie tiefbewegter und hoffnungsloser Stimmung ich den 16ten Februar noch vor einem Jahr verlebte, so kann ich mit den Fortschritten, welche ich inzwischen in meiner inneren Beruhigung und Befestigung gemacht habe, wirklich sehr zufrieden sein, und die Nothwendigkeit der Entsagung, welche ich damals nicht tragen zu können glaubte, ist mir jetzt durch fortgesetzte Willens- Übung zur anderen Natur geworden. Ich habe den gestrigen Tag so ruhig und fest verlebt, wie ich es noch vor einem Jahre nicht für möglich gehalten hätte. Freilich habe ich auch in diesem letzten Jahre durch die angestrengteste und rastloseste Arbeit mehr geschafft, als ein Anderer in fünf Jahren. Da nun eigentlich allein das Gewicht der Gedanken- Menge, die man innerhalb eines bestimmten Zeitraums durchlebt und im Geiste schafft, als das wahre Zeitmaß gelten kann, so darf ich wohl sagen, daß ich in diesem einen Jahre mehr als fünf gewöhnlicher Jahre verlebt habe. Und so will es mir auch scheinen, wenn ich an alle die Entbehrung denke, die ich darin erlitten habe. Nicht 2, sondern 20 Jahre scheinen es mir zu sein, daß ich meine liebste Anna verloren habe. ||

Den gestrigen Tag habe ich ganz allein mit mir selbst zugebracht. Ich habe eine sehr starke Wanderung von 7-8 Meilen, in etwa 11 Stunden gemacht, und diese starke körperliche Anstrengung, verbunden mit dem Genuß der herrlichen Natur, die stets meine beste Trösterin und Freundin ist, hat mir sehr gut gethan. Ich wanderte Morgens 7 Uhr von Jena fort, in 3 Stunden über den Genzig und Dorlberg (wo ich mit meiner Anna vor 3 Jahren war) nach Bürgel, dann mehrere Stunden durch schönen Hochwald (des Waldecker Forstes) nach Waldeck und Bobeck, wo ich um 12 U. ankam. Hier nahm ich ein (sehr elendes) Mittagbrod ein, (das selbst mein anb sicilianische Kost gewöhnter Gaumen kaum hinunterbrachte). Um 1 Uhr wanderte ich von dort weiter nach Schleifreisen, dann in 3 Stunden den ganzen Zeitz- Grund hinunter (in sehr schöner einsamer Waldschlucht) nach Stadt Roda. Hier rastete ich, sehr ermüdet, drei Stunden (von 4-7 Uhr). Das Wetter war den ganzen Tagc über sehr warm und schön, wie im Mai. Abends jedoch fing es stark an zu regnen, und die ganzen drei Stunden (von 7-10 Uhr) von Roda nach Jena mußte ich in strömendem Regen wandern, wobei es noch dazu so stockfinster war, daß ich mehrmals an die Bäume der Chaussée anrannte. ||

Für eure lieben Briefe, liebste Eltern, danke ich euch sehr, ebenso für das Kistchen mit dem schönen Bilde von Freund Barth, welches mir sehr viel Freude gemacht hat, und Darwin gegenüber, über meinem Sopha hängt. Auch für die schönen Apfelsinen, die mir eine rechte Erquickung sind, schönsten Dank. Daß es Tante Bertha wieder besser geht, freut mich sehr; ich wünsche sehr, daß sie bald wieder ganz gut ist.

An unsern lieben Freund Barth, der nun auch vor einem Jahre seinen letzten Geburtstag gefeiert hat, habe ich in diesen Tagen auch viel denken müssen. Es ist gut, daß er das Unglück v. Decken’s nicht erlebt hat. Wenn ich, wie ich vor 2 Jahren durchaus wollte, mit Decken nach Ost- Afrika gegangen wäre, so würde ich jetzt auch sicher, gleich seinen andern Begleitern, massacrirt sein.

Einen sehr lieben Brief erhielt ich in diesen Tagen von Darwin. Er ist jetzt fast ein Jahr lang sehr krank gewesen; es geht ihm aber bedeutend besser; er kann wieder 1-2 Stunden täglich arbeiten. ||

Eine hübsche Überraschung wurde mir in dieser Woche zu Theil. Ich erhielt ein prachtvolles Buch über das Meer und seine Bewohner, französisch von Monsieur Frédol geschrieben, dasd jetzt auch von Schleiden ins Deutsche übersetzt und selbstständig bearbeitet wird. Es ist ganz populär geschrieben und mit vielen prächtigen Abbildungen ausgestattet. Eine Tafel davon enthält sehr gute Copieen meiner Radiolarien. Außerdem ist aber der ganze Umschlag des Buches sehr geschmackvoll mit schönen Arabesken verziert, deren Figuren sämmtlich aus meinem Atlas der Radiolarien entnommen sind. Auch meine Namen sind dabei gedruckt, und in dem Texte wird „l’ouvrage magnifique de M. Haeckel“ gebührend gelobt. Erzählt dies doch gelegentlich an Georg Reimer. Eine bessere Reclame hätte er für mein Buch nicht auftreiben können. Bitte, schickt diesen Brief, liebste Eltern, mit an Karl. Von Herzen

euer treuer Ernst

e Die herzlichsten Grüße an Tante Weiss, Tante Bertha, Tante Gertrud etc.

a gestr.: d; b eingef.: an; c eingef.: Tag; d korr. aus: und; e weiter am Rand v. S. 6.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
17.02.1866
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38587
ID
38587