Jena 20 Nov. 70.
Liebster Vater!
Übermorgen wirst Du nun schon Dein neunzigstes Jahr antreten, und das sende ich Dir von ganzem Herzen meine innigsten Glückwünsche. Mögest Du dieses kommende Lebensjahr recht ungetrübt und heiter verleben, und mögen Dir Deine körperlichen und geistigen Kräfte, die Du ja bisher so tapfer bewahrt hast, ungetheilt und vollständig erhalten bleiben.
Ich hoffe sehr, daß dieser Wunsch in Erfüllung geht, und daß ich Dich bei meinem nächsten Besuche wieder so munter antreffe, wie ich Dich verlassen habe. ||
Uns geht es hier recht gut.
Agnes ist recht wohl und der kleine Walter allerliebst. Er wird jetzt schon recht wild und ausgelassen, und läuft tobend und lärmend durch die Stuben, daß mir der unter uns wohnende Professor der Philosophie oft leid thut. Agnes kann ihn manchmal kaum bändigen, und da muß dann der Papa als höhere Respects- Person zu Hülfe kommen! Wie gerne brächte ich Dir den lieben kleinen Bengel auf ein paar Tage herüber. Er ist gar zu possierlich, und dabei so frisch und gesund, wie wir uns wünschen können. ||
Das Winter- Semester ist trotz der Kriegs- Ereignisse für uns doch besser ausgefallen, als wir gefürchtet hatten. Wir haben doch wenigstens 180 Studenten bekommen, also ungefähr die Hälfte der gewöhnlichen Zahl. In der Zoologie habe ich 20 Zuhörer und in dem practischen Cursus 5, womit ich sehr zufrieden bin.
Außerdem arbeitet speciell bei mir ein italiänischer Naturforscher, Dr. Quadri aus Bologna, welcher auch meine Schöpfungsgeschichte in das Italiänische übersetzt.
Die freie Zeit verwende ich jetzt ganz auf mein Buch über die Kalkschwämme, das rüstig fortschreitet. ||
Die Berufung nach Wien die uns in den letzten Wochen viel beschäftigt hat, und sogar das große Jena etwas alarmirte, wird jetzt wohl in Folge der neusten Ereignisse in Österreich, dessen Chaos sich immer bunter gestaltet, ruhig liegen bleiben. Mindestens wird erst wieder ein neuen Unterrichts- Minister kommen müssen, und was wird das für einer werden?
Auf alle Fälle werde ich nicht so leicht und nicht ohne reifliche Überlegung von hier fortgehen. –
Hoffentlich höre ich bald Gutes von Dir, liebster Vater. Nochmals die herzlichsten Grüße und Glückwünsche von
Deinem treuen Ernst.