Jena 27. Dec 70
Liebste Eltern!
Die Weihnachtsfeiertage sind nun vorüber, die diesmal bei der traurigen Kriegs- Perspective im Ganzen recht düster waren. Unsere kleine Familie hat sie trotzdem ganz vergnügt verlebt. Heilig Abend waren wir alle drei zum Aufbau bei der Schwiegermutter, wo Walter allerliebst munter und lustig war. Auch Schwager Otto aus Eisenach war da. Am ersten Feiertag aßen wir auch dort zu Mittag. Otto ist heute Mittag wieder fort. Heute Mittag war ich auf einem (diplomatischen) Diner bei Seebeck.
– Unser Hauptgespräch (wie auch das Stadtgespräch von Jena) war natürlich meine Berufung nach Wien, über welche die verschiedensten Ansichten laut werden. ||
Meine Auffassung der Sache (und ebenso die von Gegenbaur) ist jetzt eine erheblich Kühlere geworden. Nachdem wir uns alle Seiten der Sache reiflich überlegt haben, treten die Schattenseiten des Wiener Lebens mehr in den Vordergrund, und ebenso die Vorzüge des Hierbleibens.
– Was die Hauptsache, den Wirkungskreis betrifft, so ist dieser in Wien allerdings 3-4 mal größer, aber auch gewiß 2-3 mal unersprießlicher als hier. Die Freude und der Erfolg, die ich hier von 30-40 guten Schülern habe, ist mehr werth, als diejenigen von 200-300 schlechten oder mittelmäßigen Schülern in Wien. Durchschnittlich hat leider der Wiener Student kaum die Vorbildung unserer Secundaner, weil a die Vorbildung in den Elementarschulen und Gymnasien höchst mangelhaft ist. ||
Was ferner meine speciellen wissenschaftlichen Leistungen und literarischen Arbeiten betrifft, so ist es klar, dasß sich diese mehr auf einem anderen Gebiete bewegen werden. In Wien wird mehr die specielle Zoologie, die Anatomie und Entwickelungsgeschichte der Seethiere, mit ihrer empirischen Detail- Arbeit, in den Vordergrund treten. In Jena dagegen werde ich mehr, wie bisher, für die allgemeine Zoologie, für die zoologische Philosophie thätig sein. Da nun diese letztere nicht allein wichtiger sondern auch viel mehr vernachlässigt ist als die erstere, und da ich offenbar für die allgemeine Zoologie mehr Interesse und Begabung habe, so ist es mir nicht zweifelhaft, daß im Ganzen mein literarischer Einfluß wirksamer und nachhaltiger, für die Zukunft tiefer greifend, in Jena sein wird, viel weniger in Wien. ||
Was das Gehalt betrifft, so sind 1200 rl hier, ungefähr eben so viel, als die 6000 fl in Wien, wo es kolossal theuer ist. In meiner gestern nach Wien abgeschickten Antwort habe ich meine Bedingungen gestellt, mir jedoch den Entschluß ganz offen behalten. Anderseits sind meine hiesigen Freunde und Collegen, die Facultät und der Curator, nach Kräften bemüht, mich hier zu halten. Auch in Weimar ist man dazu bereit. So habe ich denn in beiden Fällen eine gewaltige Verbesserung meiner Lage vor mir.
Wahrscheinlich bleibe ich hier. Doch darf dieser Fall jetzt noch nicht bekannt werden. Wenn ihr gefragt werdet, sagt, ich sei unentschieden, wie es in der That der Fall ist.
Nächstens Nähers!
Herzlichste Grüße
Euer
Ernst.
b schickt diesen Brief mit der Einlage an Carl.
a gestr.: lei; b weiter am Rand von S. 4.