Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Jena, 20. März 1863

Jena 20/3 63.

Liebe Eltern!

Obwohl die sehnlich erwartete Nachricht von euch noch nicht eingetroffen ist, benutze ich doch die Gelegenheit eines Briefes an Alexander Braun, um an euch einige Zeilen mitzuschicken. Das große Ereigniß, das ich euch diesmal zu melden habe, ist mein erstes Erscheinen bei Hofe, welches heute vor 8 Tagen sehr glücklich abgelaufen ist. Seebeck theilte mir schon kurz vor Weihnachten mit, der Minister Watzdorf habe ihm geschrieben, daß der Großherzogöäpülö einen Vortrag von mir zu hören wünsche. Da aber in den letzten Monaten nicht wieder davon die Rede war, hielt ich die Sache schon für vergessen, bis plötzlich vor 8 Tagen Seebeck wieder mich daran erinnerte und fragte, a ob ich bereit sei. Glücklicherweise hatte ich in der Zwischenzeit einen Aufsatz über die Darwinsche Theorie ausgearbeitet, über die ich auch diesen Winter ein Publicum gelesen habe. Dieses Thema, welches die Abstammung aller Pflanzen und Thiere (inclusive des Menschen) von einer Stammform behandelt und vom höchsten Interesse ist, schien mir ganz brauchbar und hat dann auch in der That dort sehr gefallen. ||

Wir waren nun auf letzten Freitag (13.3.) Abends nach Weimar befohlen worden. Am Vormittage hatte ich mein letztes Colleg (Zoologie) geschlossen. Um 3 Uhr wurde ich von einer Kutsche abgeholt, in welche dann noch Seebeck, und die juristischen Professoren Danz und Endemann hineinkamen. Das Wetter war ziemlich hübsch und die Herüberfahrt recht nett. Leider war ich genöthigt gewesen, mir für 3 rℓ einen Cylinder- Hut anzuschaffen, da mein früherer (den ich 1857 in Wien von meinem Schottischen Freunde Cowen (geschenkt) b zum Andenken erhalten hatte, nur noch wenige Haare besaß und nach dem allgemeinen Urtheile aller Sachverständigen nicht mehr hoffähig war. Diese Ausgabe sowohl, wie die für eine weiße Halsbinde und dito Glacé Handschuh machten mir sehr viel Schmerz. Außerdem wurde mein Hochzeits-Habit zum ersten Mal in Jena eingeweiht. Im Hôtel zum „Erbprinzen“ in Weimar fanden wir ein geheiztes Zimmer bereit. Um 8 Uhr wanderten wir, fein geschniegelt und gebügelt, mit eingeöltem und wohl gekämmten Barte, in den Großherzoglichen Palast hinüber, wo wir zunächst dem Ober-Ceremonien-Meister vorgestellt || wurden. Um 8½ erschien der Großherzog, ein schlanker, etwas steifer und militärisch- kühler Mann von 45 Jahren, und die Großherzogin (Schwester des Königs von Holland) 39 Jahre alt, eine ausgezeichnet gescheute und liebenswürdige Frau, welche sich sehr eingehend mit mir über verschiedene naturwissenschaftliche Gegenstände unterhielt. Sie ist es auch eigentlich, die solche Vorlesungen engagirt. Nachdem wir c noch fast 1 Stunde uns so unterhalten, gab der Großherzog das Zeichen zum Beginn der Vorlesung. Für mich war in einer Ecke des großen viereckigen Zimmers ein besonders kleines Tischchen gestellt, mit 2 Lichtern und einem Glase Zuckerwasser. Die Stühle wurden nun in Reihen diesem Tischchen gegenüber gestellt. Links neben mir saß der Großherzog, rechts die Großherzogin, dazwischen die Minister, die sämmtlich erschienen waren. Dahinter nahm der übrige Hof und verschiedene Gäste Platz; es mochten ihrer etwas über 50 sein, 30 Herren und etwa 20 Damen. Ich begann meine Vorlesung mit merkwürdiger Gemüthsruhe und führte sie auch eben so durch, wobei ich sehr froh darüber war, meine frühere Blödigkeit durch meine freien akademischen Vorträge bereits völlig eingebüßt zu haben. Die Vorlesung dauerte grade eine Stunde. Ich las nach meinem eigenen Urtheile ruhiger und ausdrucksvoller, als je in meinem Leben, so daß ich wirklich recht mit mir zufrieden war. || Nach der Vorlesung drückten mir die allerhöchsten Herrschaften ihr großes Wohlgefallen über die „höchst interessante“ Vorlesung aus, wobei mir der berühmte Knix oder Diener sehr zu Statten kam, den ich in der Würzburger d Tanzstunde für den König von Bayern hatte machen lernen! Dann gingen wir bald zu Tische, bei welchem ich den Ehrenplatz den Königlichen Hoheiten gegenüber bekam, links von mir der Minister von Watzdorf, rechts ein sehr gelehrter und wißbegieriger Kammerherr.

[Schema der Sitzordnung:]

der Großherzog | Frau Minister v. Watzdorf | Die Groß Herzogin | Der Preuß. Gesandte in Lissabon, v. Werthern

Seebeck | der Minister v. Watzdorf | Professor Haeckel | Kammerherr v. Beust

Auch mit einem Herrn v. Werthern, der als Preußischer Gesandter von Constantinopel nach Lissabon ging, unterhielt ich mich viel. Leider hatte die Darwinsche Theorie, nach der consequenter Weise auch der Mensch durch allmähliche Veredelung des Affen entstanden ist, die Leute so interessirt und neugierig resp. wißbegierig erregt, daß ich fortwährend mit Fragen gequält wurde und e das vortreffliche Essen auf den silbernen Tellern nicht einmal ganz aufessen konnte. Da ich voraussehe, daß auch dies, liebe Mutter, Dich lebhaft interessirt, so theile ich || Dir auch den durchlauchtigsten Speisezettel des weimarischen Hofes getreulich mit. Zuerst bekam jede Person ein apartes silbernes Schüsselchen mit Suppe; dann gab es 2) Fisch, 3) Reh-Braten (während dessen ich leider zu viel gefragt wurde!) 4) ausgezeichnetes Chocoladen- und Vanille-Eis, dazu vortrefflichen Champagner. Mit dem Großherzog unterhielt ich mich über den Einfluß der Fleisch-Nahrung, sowie des Thee- und Kaffee- Genussesf auf die Gedanken-Production, mit der Großherzogin hauptsächlich über Neapel und Capri, wo sie auch lange und gern gewesen war. Um 11½ Uhr wurden wir gnädigst entlassen, wobei die beiden Königlichen Hoheiten mir noch wiederholt ihren Dank für den sehr genußreichen Abend aussprachen. Kurz, ich wurde so flattirt, daß ich wirklich recht eitel hätte werden können. Die Hauptschuld daran hatte freilich nicht mein Vortrag, sondern das Thema desselben, welches freilich wohl das Interessanteste ist, das es überhaupt giebt. Denn Nichts kann auf den ersten Blick wohl wunderbarer erscheinen, als daß alle lebenden Geschöpfe der Jetzt- und Vor-Welt durch allmähliche Veränderung von einigen wenigen oder einer einzigen einfachen Urform abstammen sollen. Und doch macht Darwin dies wirklich in höchstem Grade wahrscheinlich. ||

Auch an den andern Tischen fanden die lebhaftesten Diskussionen über verschiedene Seiten der Frage statt und noch nachher wurde ich im Erbprinzen von mehreren mitgegangenen Gästen mehrfach interpellirt. Erst um 12½ Uhr fuhr ich mit Seebeck (Danz und Endemann blieben in Weimar) zurück und kam nachg 3 Uhr in mein liebes Nest zurück, wo das kleine Frauchen sich schon sehr gebangt hatte, weil ich über 12 Stunden (das erste Mal in der Ehe!) sie allein gelassen hatte. Indessen freute sie sich dann auch sehr, daß meine erste Hof-Affaire so über Erwarten gut abgelaufen war. Es ging wirklich so ungenirt und natürlich da zu, wie in irgendeiner feinen bürgerlichen Gesellschaft. Keine Spur von Preußischem junkerhaftem Anstrich! Bekanntermaßen haben wir auch, nächst Baden, die freisinnigste und liberalste Regierung von ganz Deutschland. In den Gemeinden z. B. sehr viel Self-Government.

– Die Osterferien, von denen nun schon 8 Tage verflossen sind, behagen uns sehr. In 8 Tagen werden wir unsern Umzug nach der höheren Etage halten. Wie habt ihr denn die traurigen Festlichkeiten vom 17 März überstanden? Schreibt uns doch recht bald, wie es euch geht. Grüßt Tante Weiß etc herzlich, liebe Eltern,

von eurem treuen Ernst.

und seiner lieben kleinen Frau Anna.

a korr. aus: ich; b gestr.: nach; c korr. aus: bis um; d gestr.: St; e gestr.: mir; f korr. aus: Produc; g korr. aus: gegen;

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
20.03.1863
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38430
ID
38430