Ernst Haeckel an Anna Sethe, Jena, 1. August 1862

Jena 1. August | 1862.

Also dies soll wirklich der letzte Brief sein, mein liebstes bestes einziges Mädchen, den ich auf lange, lange Zeit an Dich schreibe, und jedenfalls der letzte an Anna Sethe! Wie das klingt!! Da muß ich noch einmal das feine blaue Papier hervor holen, daß in der langen langen Trennungszeit während meiner italischen Wanderschaft unser Briefbote war, und in dieser freudvollen und leidvollen, schmerzensreichen und segensreichen Trennungszeit unsere Gedankenbrücke bildete. Ich habe in diesen Tagen so Viel, Viel an diese Zeit zurückdenken müssen, und besonders an den glückseligen Morgen des ersten Mai 1860, wo ich nach 5/4 jähriger Abwesenheit wieder in das Elternhaus eintrat und das Liebste Beste, was die Welt für mich hat, ein ganzer kleiner blauer Himmel, mir in die Arme sank. Wie wonnig war das Entzücken dieses Moments, liebster Schatz, und doch wird es verbleichen vor dem Entzücken des jetzigen Wiedersehns, wo ich zu Dir komme, um Dich nie wieder von meiner Seite zu lassen. ||

Kann wohl ein glücklicheres Paar gedacht werden, als wir Beide, meine süße, einzige Anna, Du beste, liebste Seele, die mir das Leben allein gut und lebenswerth macht! Dein letzter lieber Brief mit seinem Jubeln und Jauchzen ist der getreueste Abdruck meiner eigenen Stimmung, in der es vor lauter Freude und Sonnenglanz gar keine Schatten mehr giebt. In 6, spätestens 7 Tagen wird Dir Kuß und Umarmung besser sagen, was ich denke und fühle liebster Schatz, als es heute die Feder vermag, die vor Ungeduld, wie der ganze Mensch fliegen möchte und gar zu gerne die Stunden die noch bis zu unserer Vereinigung verfließen in Minuten umwandeln möchte! Herz und Kopf, Gedanken und Sinne sind schon immer 14 Tage voraus und flüstern mir von dem Polter-Abend vor, der morgen über 14 Tage ist, und von der Seligkeit des Hochzeits-Morgens, den wir am 18 August feiern und an dessen Abend die letzte Scheidewand sinkt, die unsere innigste Vereinigung noch gehindert hat! ||

Nun muß ich Dich aber noch zu guter letzt mal tüchtig schelten, Du arges Strickchen, das Du mir gar Nichts über das Wie und Wann eurer Abreise schreibst, und über den Tag eurer Ankunft in Berlin. Ich schicke also diesen letzten Brief eigentlich aufs Gradewohla nach dem Hafenplatz, obwohl in der Vermuthung, daß Du vielleicht heute noch unterwegs bist. Wenn Du übrigens eben so zerstreut und geistesabwesend bist, wie ich es jetzt bei der Arbeit bin, so ist solche Vergeßlichkeit eben kein großes Wunder! Die Vorbereitungen zum höchsten, seligsten Lebens-Momente gehen mir schon so durch den Kopf, daß der Abschluß des Radiolarien-Buchs, an dem ich noch immer knabbere, ziemlich darunter leidet. Am liebsten schlüg ich alle Radiolarien-Gedanken jetzt in den Wind und eilte auf Windesflügeln zu dem süßen Liebchen, das mich auf dem kleinen Sopha im grünen Tempelchen Hafenplatz N. 4 am Ende! auch jetzt noch lieb haben wird? Oder wird sie mich nicht mehr dort dulden wollen? ||

Unser Aufgebot ist bereits am vorigen Sonntag (27. Juli) hier und in Berlin gleichzeitig erfolgt. Sonnabendb früh erhielt ich den Trauschein von Richter und brachte ihn sofort zu Kuno Fischer, mit der Bitte, in der zufällig zur selben Stunde angesetzten Senatssitzung mir sogleich den Consens zu erwirken. 2 Stunden später hatte ich den Consens und konnte ihn zum Küster bringen, so daß Alles noch grade vor Thoreschluß (wie Du es liebst!) in Ordnung kam. Da Dich der Trauschein jedenfalls sehr interessiren wird, so lege ich ihn bei. Ferner schicke ich Dir den Brief von Louis Mulder mit. Ich glaube nicht, daß ein nochmaliges Bittschreiben ihn bewegen wird, seinen Plan zu ändern ebenso wie es auch bei Allmers wohl leider Nichts helfen wird. Ich überlasse Dir es aber, nochmals einen Versuch zu machen. Seine Adresse ist: Königlich Niederländischerc Hauptmann Lodevyk Mulder ‒ im Haag ‒ Holland. ||

II

Finsterbusch wird leider auch nicht zur Hochzeit kommen, da er keine Ferien hat, und keinen Urlaub bekommen kann. Er ist an das Gymnasium zu Minden versetzt und wird am 27 September heirathen. Von hiesigen Freunden wird wahrscheinlich keiner kommen, was mir besonders von Gegenbaur sehr Leid thut. Es sind also von meinen Freunden nur Krabbe, Focke, Merkel, und in Berlin Hartmann, gewiß. Ich hätte allerdings gern noch manche liebe Seele dabei wieder gesehen, glaube aber, daß die Argumente von Louis Mulder im Ganzen sehr richtig sind, und daß ich mich doch sehr wenig um die andere Menschheit kümmern werde, wenn ich in der Nähe des strahlenden Gestirns bin, das alle Wonne und Lust der Erde für mich in sich schließt!

Übrigens wird wohl leider der Trouble in Folge des Häufchens der lieben Verwandtschaft nicht gering sein; manchmal habe ich schon hin und her gedacht, wie wir dem entgehen könnten, aber bis jetzt ganz vergebens. ||

Letzten Samstag (26 Juli) wo Du in Misdroy den schönen Tag verlebtest, machte ich beid sehr heißem Wetter mit Gegenbaur meinen letzten größeren Jung-Gesellen-Spaziergang. Wir gingen um die Kunitzburg herum und dann über das Hufeisen herauf. Die Aussicht von der Kunitzburg, wo wir lange lagerten, war bei dem hellen Dämmerlicht höchst eigenthümlich, alles in einem tiefen blauen Schatten gehüllt, der wie ein düsterer Schleier die ganze Gegend verdeckte. Offenbar wollte die liebe Natur ihr tiefes Bedauern ausdrücken, daß nun wieder einer ihrer wildesten Lieblinge in 3 Wochen seine Freiheit einbüßte und dem schweren Joch des weiblichen Hausfrau Scepters sich beugte. Ich theilte indessen diesmal die Ansicht der Natur nicht, sondern jubelte und jauchzte in dem Gedanken an 3 Wochen später, wo ich durch die Ergänzung durch meine bessere Hälfte erst rechter Mann und doppelter Liebling der Natur würde. Die Sonne verkroch sich immer tiefer, aber in mir schien sie immer heller! ||

Sonntag 27 Juli hatte ich einen außerordentlich heißen und strapaziösen Tag. Ich fuhr früh, in Gesellschaft des Mr. Gaberel aus Genf, mit dem ich mich italiänisch unterhielt, auf der Post nach Weimar und machte dort den verschiedenen Ministern und Hofräthen meine Visite, traf jedoch Niemand an, ausgenommen Frau Präsidentin Rathgen (ein Freundin von Bleeks, aus Holstein). Um 12 Uhr wanderte ich in der furchtbarsten Mittagshitze (im Schatten 33° R!!) hinaus nach Tieffurt, wo ich mich an saurer Milch erquickte und nachher im Park 2 Stunden sehr hübsche schattige Siesta hielt. Dann ging ich nach Weimar zurück, und um 5 Uhr über Belvedere und über die Dörfer Mellingen, Lehnstädt, Schwabhausen in 4 Stunden nach Jena zurück. der Weg war äußerst strapaziös da fast gar kein Schatten mich vor der wirklich furchtbaren Sonnengluth schirmte. Nach Abends 9 Uhr, als ich nach Haus kam, zeigte das Thermometer 22° R! Ich hatte keinen trocknen Faden mehr am Leib und war andern Tags noch so matt, daß ich kaum stehen konnte. Jetzt ist aber Alles abgeschüttelt und mir die tolle Strapatze (wie immer) vortrefflich bekommen. ||

Die Maaße vom Quartier, den Wänden, Thüren, Fenstern etc werde ich Dir selbst mitbringen, liebster Schatz. Auf dem Kochherd, der sehr gut ist, wird auf Ringen gekocht. Alles Übrige sage ich Dir bald mündlich. Ich hatte gehofft, schon Mittwoch reisen zu können, fürchte aber, daß es Donnerstag oder gar Freitag wird, ehe ich fortkomme, da von der Vorrede, die durchaus noch vorher fertig werden muß, noch kein Wort geschrieben ist. Ferner muß ich noch 1‒2 Tage der Ordnung des zoologischen Museums opfern. Sollte ich Mittwoch schon reisen können, so würde ich 1 Tag in Merseburg bleiben; keinenfalls werde ich also vor Donnerstag (7. August) wahrscheinlich erst Freitag kommen, jedenfalls mit dem Abendzug; ich finde dann wohl Linksstraße 26 bei Mutter ein gewisses kleines Wesen vom Hafenplatz?

Nun den letzten, schriftlichen Gruß und Kuß, liebste, beste Anna! Es herzt und umarmt Dich in Gedanken aufs Innigste (in 8 Tagen aber wirklich und leibhaftig) Dein überglücklicher Bräutigam Ernst.

e Das Colleg über Osteologie habe ich gestern, Donnerstag, letzten Juli, geschlossen.

a korr. aus: Grathewohl; b korr. aus: Sonntag; c eingef.: Königl. Niederländ.; d korr. aus: beim; e weiter am Rand v. S. 8: Das Colleg über…letzten Juli, geschlossen.

Brief Metadaten

ID
38422
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach
Datierung
01.08.1862
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
14,4 x 21,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38422
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Sethe, Anna; Jena; 01.08.1862; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_38422