Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Jena, 7. Januar 1862

Jena 7.1.62.

Glück auf!

soll das erste Wort sein, mein süßer, lieber Schatz, das ich Dir von hier aus im Jahre 1862 zurufe: 1862! in diesem für uns wichtigsten und bedeutungsvollsten aller unserer Lebensjahre, welches unsere süßesten Hoffnungen erfüllen und unsere kühnsten Wünsche verwirklichen soll! Daß diesmal in der That unsere holden Träume nicht wieder in Schaum zerfließen, sondern zur liebsten Wirklichkeit werden sollen, ist sicher, und die paar Worte, die ich bis jetzt mit Gegenbaur über die wirkliche Vollendung des Planes gesprochen, bestätigen nun alles das, was Du schon weißt, und geben uns also die vollste beglückendste Sicherheit! Du kannst denken, wie mich diese Gewißheit glücklich macht, und meine Stimmung, die in den letzten Tagen in Folge Deines Leidens und meines Überarbeitens etwas gesunken war, wieder mächtig erhöht hat. Was Dein unnützes Ohrchen betrifft, so hoffe ich bestimmt, daß mir die nächste Nachricht, um die ich recht, recht bald bitte, vollkommene Besserung meldet! Ich bin in sofern dabei noch ziemlich ruhig, als die heftigen Schmerzen dabei das Schlimmste sind, das Leiden selbst aber gar nichts zu sagen hat. Wie heftig die Schmerzen, die ich || doppelt mit Dir fühle, auch sind, so sind sie mir doch immer lieber, als der böse Hals von 1860 und die matte, mürbe Änni des vorigen Jahres, die mich so sehr ängstigten und manche heimliche Thräne kosteten, von der Niemand mir etwas angemerkt hat. Wenn Du die Ohr-Entzündung erst wieder abgeschüttelt hast, bist Du doch wieder meine herzige muntere Änni, der kleine, liebe lose Strick und Springinsfeld, der mit dem Erni um die Wette in das herrlichste glücklichste Zusammenleben hineinläuft. Nur eins bitte ich Dich aber wirklich dringendst, liebster Schatz, nämlich, daß Du Dich von jetzt an wirklich ernstlicher in Acht nimmst. Wie verdrießlich die Ermahnungen und Vernunftreden der lieben Verwandtschaft auch sein mögen: etwas Wahres ist doch daran; Du bist wirklich ein gar zu leichtsinniger und übermüthiger kleiner Strick, der seinen Erni in diesem Punkte noch weit übertrifft, was ich früher nicht für möglich hielt! Wenn ich Dich wirklich dringend bitte, Dein liebes süßes Cadaverchen, das ja mir gehört! zu schonen, so ist dies nicht aus Princip geschehen, sondern weil es doch wirklich Dir, wie mir, manches Bittere erspart, das uns schon so oft die kurze Zeit des Zusammenseins getrübt hat; doch lieber vorher etwas sagen, als später so viel mehr leiden! || Ich brauche wohl nicht mehr über dieses Capitel zu predigen, liebster Schatz, und hoffe, daß die eigne Vernunft meiner kleinen Professorin, welche mir in Jena keine Streiche der Art mehr machen darf, sie zu größerer Nachsicht veranlassen wird! ‒

Von mir ist noch nicht viel zu melden! Die Ermattung der letzten Tage, die wirklich so arg, wie seit langer Zeit nicht, war, ist nach einem kräftigen zehnstündigen!! Schlafe der früheren Kraft gewichen und besonders, seitdem ich gestern das Turnen wieder begonnen, fühle ich mich wieder ganz wohl. Das alte Einsiedlerleben in der lieben kleinen Klause hat wieder begonnen und die 14 Tage Weihnachtsferien kommen mir kaum wie ein 14stündiger Traum vor! Dafür sollen die 6 Wochen Osterferien um so besser werden! Gelt, mein Herz? Von der Herfahrt kann ich Dir wenig erzählen, da ich die meiste Zeit über das Glück genoß, nach welchem ich mich an dem Tage am meisten sehnte, nämlich in einem Striche zu schlafen und an Nichts zu denken. An etwas dachte ich aber im Traume doch, nämlich an Frau Apollonia Gimblstätter, in deren reizenden Blumengarten in Salzburg ich ein jugendliches übermüthiges blondes Päärchen Boccia, und dann in einer reizenden, von Epheu und Geisblatt umrankten Laube Baccio spielen sah, was mich ungemein entzückte!! ||

Die Herüberfahrt von Apolda nach Jena war sehr amüsant, da die beiden Bummelwagen an allen Ecken und Enden mit zurückkehrenden Studenten besetzt waren, von denen ein Theil im dichtesten Schneegestöber daußen sitzen mußte! Das liebe friedliche Saalthal empfing mich a im prächtigsten weißen Weihnachtskleide, wie ich es bisher noch nicht gesehen. Die Berge machen sich in der dicken Schneedecke überaus prächtig, die dunklen Tannenwälder zeichnen melancholische Schlangenstreifen auf den fleckenlosen Atlasglanz. Besonders imposant ist wieder der herrliche Genzig, an dem ich mich nicht genug erfreuen kann. Nächstes Frühjahr soll er auch noch jemand Andres erfreuen!! In der hiesigen juristischen Facultät sind massenhafte Ernennungen und Berufungen erfolgt! 2 Privatdocenten sind Extraordinarii, ein Extraordinarius ist Ordinarius geworden und 2 neue Ordinarii sind berufen worden! Nächstens soll auch in der medicinischen Facultät kein Ordinarius, aber ein Extraordinarius geschaffen werden!! Ich bin sehr neugierig darauf! Du auch??? Melde mir baldigst, liebster Schatz, daß Du wieder ganz munter bist; ich hoffe, daß Du schon wieder auf bist. Es küßt und herzt Dich Dein treuer Erni.

b Grüße Heinrich und Mutter und danke ihr schön für alle bewiesne Liebe.

a gestr.: mit; b weiter am Rand v. S. 4: Grüße Heinrich und…alle bewiesne Liebe.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
07.01.1862
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38397
ID
38397