Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Jena, 6. Dezember 1861

Jena 6.12.61.

Hoffentlich trifft Dich dieser Brief in besserem Zustande an, als mein letzter, liebster Schatz, bei dessen Empfange Dir Dein unnützes kleines Caderverchen wieder schlechte Streiche gespielt hatte. Vermuthlich hatte mein kleines übermüthiges Strickchen sich mal wieder nicht gehörig „in Acht genommen“, und daher das kleine Leiden, welches die beiden den Aufenthalt in Frankfurt wohl theilweis verkümmert haben wird. Nun, es ist ja an sich gar nichts schlimmes, und wenn Dir künftig nie etwas Bedenklicheres fehlt, will ich ganz zufrieden sein. Hoffentlich ist jetzt Alles wieder vorbei, und mein süßes kleines Herz sitzt wieder munter und vergnügt bei der Arbeit in seinem kleinen Stübchen, wo es wohl in 14 Tagen einen Gast bei sich haben wird! Ob der wohl erwünscht kömmt?? ‒ Wie ich mich diesmal auf Weihnachten freue, kann ich Dir gar nicht sagen, süßer Schatz! Soll ich Dir doch da von dem glückseligen Jahre 1862 vorplaudern, in dem mit Gewißheit alle unsere schönsten Hoffnungen in Erfüllung gehen! Wenn nun schon das Frühjahr diese ersehntea Verwirklichung unserer Herzenswünsche brächte! Ich fürchte aber sehr, daß der Herbst darüber herankommen wird. Trotz des möglichsten Fleißes, trotzdem ich das Mögliche leiste und alle Kräfte anspanne, sehe ich doch leider, daß ich bis Weihnachten nicht ganz fertig werde. 2‒3 Bogen werden immer noch bleiben. Und wenn das auch so wäre, so macht der traurig langsame und schleppende Druck des Buches alle Hoffnungen zu Schande.

Doch will ich zu Weihnachten mit Georg Reimer ernstlich darüber sprechen und hoffe, daß er dann Beschleunigung eintreten läßt. ||

Wie ich diese Woche gearbeitet habe, kannst du daraus entnehmen, daß ich noch 2 Arbeitsstunden täglich, von 1‒2 Nachts, und von 2‒3 Nachmittags (wo ich sonst mit meinen Freunden Kaffe trank) zugesetzt habe. Früh habe ich also jetzt 4 Stunden zum Zeichnen der Tafeln (von denen ich heute die vorletzte vollendet habe) von 8‒12. Von 12‒1 Colleg. Mit diesem geht gehts jetzt vortrefflich.

Trotzdem ich mich fast gar nicht ‒ oder höchstens 1 Stunde täglich ‒ präparire, geht es viel besser, als im vorigen Sommer. Auch die Zuhörer (7) sind sehr fleißig, kommen sehr regelmäßig b (fast täglich 6 oder alle 7) und haben sich alle ein großes Heft angelegt, in dem sie nachschreiben ‒ „als dictirte ihnen der heilige Geist“ ‒ dies macht mir, wie Du denken kannst, viel Freude, besonders auch, daß Einer das Colleg noch einmal hört, der es schon vorigen Sommer sehr fleißig hörte. Außerdem habe ich fast einen Tag um den andern ein paar Hospitanten, das sind also schon ganz gute Ansätze zu einem ordentlichen Professor! ‒ Nach Tisch arbeite ich gewöhnlich von 2‒4, gehe dann 1 Stunde turnen, welches mich glaube ich, allein noch gesund und frisch erhält ‒ und lese dann von 5‒6 Zeitungen. Fast immer wird eine volle Stunde daraus, da ich mit dem leidenschaftlichsten Interesse unsere Wahlen und den ganzen herrlichen Freiheits-Aufschwung unsres Volkes verfolge, der uns hoffentlich dies mal ein gut Stück weiter bringen wird. || Von 6‒2 Uhr ist die eigentliche Arbeitszeit und da mache ich allerdings jetzt täglich mehr fertig, als früher in Berlin in einer Woche. Wäre da nicht immer ein kleiner verderblicher Magnet am Hafenplatz (in einem kleinen reizenden grünen Tempel) gar zu wirksam gewesen, so wäre ich wohl längst fertig! Hätte ich Gegenbaurs Rath befolgt, schon Winter 60/61 hier zu sein, dann säße vermuthlich jetzt schon meine kleine Professorin hier neben mir! Hätte ich die Gewißheit, daß wir noch im Sommer das Ziel unserer Wünsche erreichten, so würde ich wohl die reizende Wohnung unter mir, die leer steht, miethen; jedenfalls werde ich noch vor Weihnachten mit Hrn. Böhme darüber sprechen. Dabei fällt mir ein, daß ich Dir wohl noch gar Nichts von meinem Winterquartier geschrieben. Auf folgender Seite erhältst Du einen Plan davon. ‒

Hier ist jetzt „grande saison“, ‒ fast einen Tag um den Andern Souper oder Diner oder Ball oder Thee etc etc. Ich habe fast 7 mal die Woche das Vergnügen, eine derartige Einladung auszuschlagen, und hoffe, bald gänzlich verschollen zu sein. Dafür habe ich mir diese Woche 2 mal das Vergnügen eines größeren Spaziergangs mit meinen Freunden gegönnt. Beidemal war das herrlichste Winterwetter ‒ ich sehe aber nur die Landschaft des nächsten Sommers vor mir!! Sonntag machten wir den prächtigen kühnen Gebirgsweg nach der „großen Horizontale“; heute waren wir auf dem Forst und gingen von da über Lichtenhayn zurück. Die Natur ist hier auch im Winter gar zu prächtig und ersetzt alle andern Mängel ‒ nur Einen nicht!! ‒

In 14 Tagen habe ich Dich wieder, süßester Schatz!! Einliegenden Zettel bitte ich gelegentlich an Karl zu schicken. Grüße die Alten etc. Innigsten Gruß und Kuß von Deinem Erni. ||

[Zeichnung der Wohnung]

In der großen dreifenstrigen Wohnstube, die zur Schlafstube umgewandelt ist, sieht es jetzt leer genug aus. Dagegen ist die frühere Schlafstube, jetzige Arbeitsstube, so überfüllt, daß ich kaum einen Stuhl mehr hineinstellen könnte. Für meine Arbeit ist sie übrigens sehr bequem, insofern ich Alles gleich bei der Hand habe.

Die Aussicht ist auch jetzt ganz reizend. Sonne bekomme ich aber gar nicht mehr. Die kleine reizende Sommerstube mit dem Fenster nach dem Prinzessinnen-Garten ist zur Wasch- und Garderobe-Stube umgewandelt. Mit der Heizung gehts gut, so lange die Kälte nicht auf 10 Grad unter 0 oder noch mehrc reicht; dann aber bringe ich die Zimmertemperatur nur auf 10‒12 Grad über 0, was sich besonders zwischen 12 und 2 Uhr Nachts doch etwas bemerkbar macht. Die reizenden Berge mit der kostbaren Aussicht und die Einsamkeit entschädigen aber hinreichend für Frost! ‒

a korr. aus: ersehnten; b gestr.: und; c korr. aus: weniger

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
06.12.1861
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38395
ID
38395