Ernst Haeckel an Anna Sethe, Berlin, 30. September – 1. Oktober 1858
Berlin. Donnerstag 30.IX.58.
Den ganzen Abend lief mir meine Kleine so viel über das Müllersche Heft, daß ich immer wieder das liebe Daguerrotyp ansehen mußte, trotzdem das eigentlich bei der Arbeit verboten ist. Aber es war doch nicht umsonst; sonst hätte mich nicht der Briefträger noch so spät mit den lieben, lieben Zeilen erfreut, auf die ich den ganzen Tag gehofft hatte. Hab Herzens Dank dafür, mein liebster Schatz. Ach ich hatte sie heute so nöthig! Auch die vorigen Tage sehnte ich mich so danach, in Deiner lieben Seele mir ein bischen Ruhe und Frieden zu holen. Da mußten denn die früheren Briefe herhalten, die ich einen um den andern wieder durchlas, (obwohl ich sie halb auswendig weiß) und mir Trost in Deiner Liebe suchte. Ach mein bestes Herz, das waren schwere, schwere Tage, die ich jetzt durchmachen mußte. Nicht umsonst hatte ich die frühzeitige Veröffentlichung unseres lieben Geheimnisses so sehr gefürchtet und Dir so oft und bestimmt die Bitte darum abgeschlagen, Dir, der ich sonst Nichts abschlagen und verweigern kann. Du weißt, wie mir vor dem Urtheile meiner Freunde bange war, und diesmal hatte ich wirklich nicht zu schwarz gesehen, Ach, liebste Änni, wenn ich Dich nicht so über Alles lieb und werth hätte, daß dies Glück mir Alles Andere aufwiegt, wenn ich noch der alte Mensch wär, ich hätte in diesen Tagen wirklich verzweifeln können. Freilich sind Gratulationen genug eingelaufen, aber meist von ferner stehenden, selbst von Vielen, die ich nicht leiden kann. Aber daß grade diejenigen, die mir am nächsten stehen, die mich wirklich lieb haben und mein Bestes wollen, daß grade die fast Alle mein Glück so mißverstehen, daß sie keinen Glückwunsch von Herzen thun können, daß sie halb mitleidig, halb ärgerlich die Achseln zucken, das hat mir unendlich weh gethan, das hat mich jetzt ein paar Tage so bewegt, daß ich fast nur den schwärzesten Gedanken Raum geben konnte, keinen Menschen mehr sprechen mochte, und nur einen einzigen Wunsch hatte: an Deiner treuen Brust mein Herz ausschütten und bei Dir mit Trost und Friede suchen zu können. || Sei ihnen nicht böse darum, mein liebster Schatz, daß sie mich so quälen; ich habe einen Entschuldigungsgrund für sie, aber auch nur den einen: Sie haben keine Ahnung von dem Glück, das in dem völligen, liebevollen Verschmelzen zweier Seelen, in dem Ineinanderaufgehen ihrer Gedanken, Wünsche und Hoffnungen liegt. Sonst könnten sie nicht so hart urtheilen. Sie kennen es eben nicht. Ach [könnte]a ich Dich nur hier haben, und Dich ihnen ganz und voll so zeigen können, wie Du bist, mit Deinem edlen sittlichen Werth, Deiner reinen, kindlichen Seele, Deinem begeisterten, zartfühlenden Natursinn, wie bald hätte ich da den Thoren statt des vorwurfsvollen Bedauerns einen freudigen Glückwunsch von Herzen entlocken wollen!
Freilich wollen unsere Leute in dieser Beziehung ganz anders urtheilen und beurtheilt sein, als gewöhnliche Menschen, und Du mußt da den Naturforschern schon etwas zu Gute rechnen; ich weiß ja selbst zu gut, wie ich früher selbst in dieser Beziehung urtheilte; unsere heilige, erhabene, wundervolle Natur und Naturerkenntniß steht uns so hoch, so hehr da, daß sie uns selbst über die gewöhnlichen Alltagsmenschen erhebt, daß wir uns als Personen ihr gegenüber selbst vergessen, uns so unendlich niedrig und unbedeutend vorkommen, daß die Freude und der Genuß des gewöhnlichen Alltagslebens eben für uns keinen Werth hat. Wir betrachten uns eben nur als einen zerstiebenden Tropfen im Weltmeer, als ein Molekül, das in dem ewig umwirbelnden Kreislauf der Weltensysteme nur ein momentanes Aufflackern und Verlöschen des Daseins beanspruchen kann. Wir sehen das, worum sich die gewöhnlichen Menschen abarbeiten, woran sie ihr ganzes Leben, Streben und Ringen setzen, die vergängliche Ehre, die eitle Lust, das selbstbewußte Emporstreben über Andere, das Alles sehen wir gleichsam nur aus der Vogelperspektive, aus der Ferne gleichgültig oder verachtend an. Gewiß liegt in diesem esotherischen Standpunkt des Naturforschers der Neuzeit, der mit Microscop und Telescop, mit Messer und Reagenzflasche die geheimsten Tiefen des Lebens ans Licht zu ziehen, durch Verstand zu erklären sucht, ein gewisser Hochmuth, der aber verzeihlich, weil zu natürlich und zu verführerisch ist. Dafür daß uns die gewöhnlichen Lebensgenüsse der Menschen eben keine Genüsse mehr sind, dafür wollen wir andererseits entschädigt sein, und diese Entschädigung finden || wir im reichsten Maaße in unserer Arbeitsthätigkeit, in dem mühevollen, aber sicheren Eindringen in die verborgensten Naturgeheimnisse, in einer Vertrautheit des allerinnigsten Umgangs mit der köstlichen Natur, von der eben die gewöhnlichen Menschen keine Idee haben. Ich selbst hatte mich in diesen einseitigen, ausschließlichen Naturcultus in letzter Zeit bis zu dem äußersten Extrem hineingearbeitet; Alles ging mir in dieser Beschäftigung auf, und ich achtete jeden Augenblick für verloren, der nicht der verstandesmäßigen Erforschung oder dem gemüthvollen Genusse der Natur gewidmet war. Da wurde mir mit einem Male eine neue bisher ungeahnte, oder fast ahnungsvoll gemiedene Seite des Menschenlebens aufgethan; ich lernte Dich kennen, mein bester Schatz und unbewußt und unbemerkt keimte in mir das Bewußtsein auf, das es auch noch etwas eben so hohes, wo nicht höheres gebe, als das, wonach ich bis jetzt allein gestrebt, daß es ebenso oder noch mehr gelte, sich als Mensch, wie als Naturforscher auszubilden. Und daß ich von b jenem ausschließlich egoistischen Standpunkt zu diesem allgemein menschlichen mich erhoben habe, ist einzig und allein Dein Werk, mein herziges Lieb, das ich Dir, je länger, je mehr, danken werde, später noch c viel mehr als jetzt, wo mir doch zuweilen der Mephisto noch über die Schulter schaut und mir höhnisch beweisen will, daß das alles Trug und eitler Schein sei. Ach, beste Anna, Du machst gewiß aus mir noch einen guten, glücklichsten Menschen; verlier den Muth nur nicht, wenn der junge Eichbaum vom Sturm noch zuweilen arg hin und her gebeugt wird und in allen Ästen knackt, als wollt er zusammenbrechen, bleib Du nur sein treuer Epheu und halt fest und unlösbar an ihm; dann werden gewiß mit der Zeit auch die Wolken weichen, welche noch so schwer und dicht den bedrängten Sinn belagern. Nur von jenem Standpunkt aus, der in Materialistischer Weltanschauung seind systematisches Ziel findet, den ich noch vor Kurzem selbst so fest hielt, kann ich das jetzige Benehmen meiner Freunde begreifen, die doch sonst so liebe treffliche, wirklich edle und gute Menschen sind. Gewiß werden auch sie noch einst anderen Sinnes werden und den Gründen des Gemüths gegenüber denen des Verstands Recht geben, mit denen ich mich jetzt vergeblich zu vertheidigen suchte. ||
Daß ich mir durch meine Verlobung meine wissenschaftliche Thatkraft geschwächt, daß ich meiner Lebensbestimmung dadurch untreu geworden, daß ich mir selbst die jugendlichen Flügel beschnitten, das freie ungebundene Streben gehemmt, daß ich mir dadurch den höchsten Wunsch meines Lebens, die Tropenreise, selbst unmöglich gemacht, mir selbst untreu geworden – das alles sind Beschuldigungen auf die ich wohl gerüstet war und die ich ziemlich leicht abgeschüttelt habe, weil ich sie mir selbst so oft gemacht, bevor und nachdem ich den entscheidenden Schritt gethan, und weil ich sie mir selbst widerlegt und überwunden habe. Aber ein anderer Vorwurf wurde laut und dieser hat mich diese ganze Zeit hindurch furchtbar gequält ja wirklich fast zur Verzweiflung getrieben; und er kam aus dem Mund eines Freundes, den ich seines treuen Gemüths wegen ebenso liebe, als seines sittlichen Werths wegen achte. Es war das erste Wort, das er sagte: „Ein unbegreiflicher Leichtsinn! Hast Du denn bei diesem wichtigsten Schritte, den man nur einmal im Leben thut, wohl bedacht, was Du thust? Daß Du zu der schweren Verantwortung Deines einen Menschenlebens Dir noch ein zweites aufladest; daß Du die Verpflichtung hast, dieses in jeder Weise glücklich zu machen und mehr dafür einzustehen, als für Dein eigenes? Und hast Du wohl überlegt, was Du bei Deinen wissenschaftlichen Bestrebungen für eine Aussicht hast, Dir eigene Existenz zu gründen? Daß Du vielleicht 10 Jahr habilitirt sein kannst, ehe es bei der jetzigen Überfüllung unseres überaus anziehenden Lehrfaches, irgend einer kleinen Universität einfällt, Dich zu einer kleinen Professur zu berufen, die dann nicht einmal ausreichend ist, Dir Deine Braut heimzuführen? Und hast Du wohl bedacht, daß Deine Braut über diesem vergeblichen Hoffen und Harren auf eine blaue Ferne die besten Jahre ihres Lebens verlieren kann, und daß sie dann vielleicht mit einer Existenz vorlieb nehmen muß, die ihren Ansprüchen nicht im mindesten genügt? Nein, liebster Freund, da begreif ich Dich doch nicht; daß Du so allen ruhigen Verstand von der wilden Leidenschaft hast fortreißen lassen, hätt ich nicht erwartet!“ ||
Ach Anna, das waren Worte, die mir bitter und scharf durch die Seele schnitten; deren ich nichts erwidern könnte; deren Last mich zu Boden drückte und erstickte. Leichtsinn – Leichtsinn!! tönte es mir Tag und Nacht in den Ohren wieder! Unbegreiflicher Leichtsinn! In dieser Art hatte ich die schwere Verantwortung unseres Verlöbnisses doch noch nicht betrachtet; gewiß war es eine einseitig übertriebene Ansicht; und doch lag so eine schwere Wahrheit darin, die mir das Blut nach dem Kopf trieb, daß ich nicht antworten konnte. Aber nur zu sehr hatten die schwarzen Gedanken den düstern Vorwurf aufgefaßt, und nun verarbeiteten sie ihn und spannen ihn aus, und weiter und weiter, Tag und Nacht. Einen gewissen Leichtsinn hatte ich früher allerdings besessen – ich hatte im vollständigen Aufgehen in meiner Wissenschaft, in meiner Natur, mich selbst vergessen, mein Leben für nichts geachtet und jedem Zufall preis gegeben, in leichter Sorglosigkeit in meiner köstlichen Arbeit fortgestrebt, ohne viel darnach zu fragen, ob sie mich einmal ernähren würde oder nicht. Das ist nun auf einmal Alles so ganz anders geworden und ich hatte wirklich mir damals, als ich um Dein Leben, um Deinen Besitz warb, das nicht so scharf und klar vorgestellt. Jetzt fiel mir diese Verantwortung mit doppelten Gewicht auf die Seele. Nach einer sichern Existenz soll ich streben und das bald! Das war mir ein neuer Gedanke. Ach und wie wenig fühle ich mich noch dieser Aufgabe gewachsen! Wie ist noch Alles in mir so unreif, so unklar, so widerspruchsvoll und unbestimmt! Ach, lieber Schatz, je weiter ich den Gedanken verfolgte, je mehr ich ihn mir mit allen Konsequenzen ausmalte, desto schrecklicher wurde er mir! Die letzten 4 Tage war ich fast zu keinem andern fähig. Leichtsinn, unbegreiflicher Leichtsinn, rief es mir immer grell in die Ohren und [ich] wußte zuletzt nicht, wo aus noch ein. Vergebens suchte ich mich in das Studium der Müllerschen Ideen zu vertiefen, die mich so eben noch so mächtig ergriffen hatten, vergebens e spielte ich mir die Melodien der lieben, tiefen Volkslieder, die mich sonst so andächtig f bewegen, vergebens sah ich mir meine lieben Pflänzchen an oder suchte mir angenehme Reisebilder ins Gedächtniß zu rufen. − ||
Vergebens nahm ich Deine lieben, herrlichen Briefe vor, deren treue gute Stimme sonst allen Schmerz vergessen läßt – Alles, alles umsonst. Die schwarzen Gedanken wollten nicht fort, sie wurden je länger, je schlimmer. Alles schien auseinander zu gehen. Aus Deinem süßen Bilde sah mich nur Vorwurf und Trauer, nicht Liebe und Lust an. Ich mochte keinen Menschen mehr sprechen, ihre Glückwünsche klangen mir wie Ironie, meinen Freunden ließ ich sagen, ich dürfte nicht sprechen; des Abends schlief ich angstvoll und unruhig ein und wachte des Morgens nur noch trauriger über dies neu beginnende, selbstbewußte Leben auf. Zuletzt summte immer nur ein alter Vers, ich glaube aus Faust, mir in den Ohren:
„Hilf Du mir, Tod, die Zeit der Angst verkürzen,
Was muß geschehen, mags gleich geschehn,
Mag Alles dann zusammen stürzen
Und sie mit mir zu Grunde gehen.“
Ach Anna, das waren schreckliche verzweiflungsvolle Tage, wie ich sie noch nie gehabt und hoffentlich auch nie wieder haben werde. Das einzige, was mir Trost auch in der schlimmsten Noth gewährt, war ja nicht bei mir; ach hätte ich Dich haben können, es wäre nicht so weit gekommen. Ich hätte Dich mit allen Gedanken herziehen können, so unendliche tiefe Sehnsucht hatte ich, mit Dir, liebstes, bestes Herz, mich auszusprechen. Ich versuchte Dir zu schreiben; aber auch das ging nicht; ich hätte Dir nichts, als das ewige Wort „Leichtsinn“ sagen können, mich mit Vorwürfen überhäufen können, die in Deinen Augen doch keine sind. So ging es bis heute Nachmittag. Den ganzen Vormittag hatte ich wieder über der Arbeit gesessen, ohne doch ein bischen vorzurücken; da konnte ich es endlich nicht mehr allein mit mir aushalten und habe dem guten Vater Alles ausführlich ausgesprochen. Er hat mich denn auch beruhigt und getröstet, so gut er konnte; das wilde, tobende Meer hat sich so ziemlich geglättet; ganz ruhig wurde es aber erst, als Dein lieber, lieber Brief heut Abend kam, mein bester Schatz, für den du tausend, tausend Dank haben sollst. Doch nun auch für heut genug. Mitternacht ist vor der Thür. Schlaf ruhig und süß, mein einziges Herz! ||
Freitag. 1/10.
Eine schöne gut Nacht muß ich Dir noch sagen, liebstes Schatzchen, obschon es schon spät ist, da Korthüms, die uns mit ihrer Schwester, Frau Syndicus Christisen aus Kiel (eine sehr nette Frau), besuchten eben erst (um 11 Uhr) fortgegangen sind. Und sagen muß ich Dir, daß ich den neuen Oktober, in dem ich mich mit meinem Herzliebchen so recht nett winterlich einleben werde, gut angetreten habe. Ich habe nach den 4 schlaf- und ruhelosen Tagen diese Nacht, wo mich Dein liebes Bild, durch den herzlichen Brief wieder neu aufgefrischt, angenehm einwiegte und durch g einen lieblichen Traum (ich war an unserm Siestaplätzchen im Walde und mein munteres Reh ruhte wonnig an meiner Brust!) hindurch begleitete, prächtig geschlafen und habe neugestärkt meine Arbeit wieder aufgenommen. Das war ein trauriger Schluß von dem schönen September, seine ganze zweite Hälfte wollte mich mit Gewalt aus dem Paradies reißen, in das mich die erste versetzt hatte. Nur gut, daß wenigstens zu allerletzt Dein lieber Brief und des guten Vaters vernünftiger liebevoller Trost die tragische Scene noch leidlich gut geschlossen haben. Eigentlich ärgerts mich heute, daß ich Dir all das dumme Zeug, mit dem man mich so trostlos und doch so unnütz herum gequält hat, geschrieben habe. Aber Du willst ja Deinen Erni ganz haben und da mußt Du ihn auch mit allen seinen düstern Schattenseiten nehmen; ich kann Dir nicht helfen; ich kanns schon gar nicht mehr übers Herz bringen, Dir irgend etwas zu verschweigen; und ich mußte auch das dumme Herz durchaus ausschütten. Was hätt ich Dir auch sonst schreiben sollen? Ach, Änni, Du glaubst nicht, wie trostlos das große Berlin ohne Dich ist! Ich gehe nur ungern aus der Stube, so nackt und nüchtern und hohläugig sehen mich die naturlosen Residenzstraßen an, mit ihren ungemüthlichen hohen Häusern, der dumpfen Kellerluft, dem unruhigen Gewirr und Gerassel der Wagen und Karren, und den theils philiströsen, theils blasirten, theils raffinirten Physiognomien ihrer Straßenlungerer. Jedesmals, wenn ich aus der schönen Natur, wie neulich aus dem lieben Jena, hier wieder einziehe, überläuft mich ein Schaudern, namentlich wenn das schöne Haus Hafenplatz N. 4 seines besten Schmucks entbehrt. ||
Als ich jetzt aus Heringsdorf wieder einzog, war mir nicht anders, als obs ins Gefängniß ging. Ist das aber auch ein Unterschied! Ach es war doch eine zu paradiesische Zeit, bis zum 14ten! Schritt für Schritt habe ich Dich gestern Abend auf den reizenden Spaziergängen und in Wald und See begleitet. Schon jetzt freue ich mich darauf, wie das wohl in 2 Jahren sein wird! Nicht wahr? –
Wir haben seit gestern Besuch von Hrn. v. Kathen, der noch ein paar Tage bleibt. Heut früh war auch der Regierungs Rat Karo hier, ein alter Merseburger Freund, der darauf brennt, „das Wunderkind zu sehen, welches das absolute Naturforscherherz bezwungen“ hat. Heut Mittag speiste die Ober Präsidentin v. Bassewitz hier, eine sehr liebenswürdige und geistreiche Frau, alte Familienfreundin, die von Potsdam gekommen war, um zu gratuliren. Sie war sehr herzlich. Heut früh bin ich auch seit 8 Tagen zum erstenmal wieder ausgegangen, da das dumme Zahnfleisch noch immer sehr empfindlich und geschwollen war. Jetzt ist es aber Alles wieder ganz gut und Mutter beginnt schon, ihren blassen abgemagerten Jungen, über den sie natürlich alle möglichen und unmöglichen Angstideen hat, wieder herauszufüttern. Mein erster Gang war auf das Museum, wo ich in h der alten Gesellschaft der 3 lieben Freunde, Hartmann, Wagner, Lieberkuehn, zum erstenmal wieder recht munter und frisch arbeitete. Sie waren sehr lieb und freundlich, vermieden aber ganz das bedenkliche Thema, das jetzt schon Noli me tangere wird. Sie erzählten mir von ihrer Reise nach Venedig und Triest mit Max Schultze. Guido Wagner hat rechtes Pech gehabt, indem er bei der Ankunft in Venedig das Stahlprisma des Microscops abgebrochen vorfand, so daß er gar nicht hat arbeiten können. Zwischen den Fischzeichnungen, die ich für mein Muellersches Heft mache, guckte ich oft zu dem alten Fenster hinaus und suchte ein gewisses Gesicht unter dem braunen Strohhut und weißen Mäntelchen, das mir da manchmal so lieb herauf gewinkt hat. Es war aber nur leere Trauer. Wie sollte sich auch das einzige Ostseeannabild auf den Berliner Opernplatz verirren? –
Das Wetter, das heut früh mit erstem Oktoberregenguß anfing, war i nachher recht hübsch, so daß ich j nach dem Kaffee zu Tante Bertha und Heinrich hinausspazierte, beide aber nicht traf, also auch Dein lieb Zimmerchen nicht sah; Nun hab ich bestellt, daß ich den Brief morgen früh abschickte, wenn sie etwas mit geben wollten. Für heut gut Nacht, mein liebster Schatz!
a irrtüml.: hätte; b gestr.: diesem; c gestr.: mich; d korr. aus: seinen; e gestr.: suchte; f gestr.: ergreifen; g gestr.: den; h gestr.: G; i gestr.: auch; j gestr.: zu