Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Berlin, 23. September 1858

Berlin 23/9 58.

Einen recht schönen guten Morgen, mein lieber Schatz! Hoffentlich scheint Dir die prächtige Morgensonne vom wolkenlosen Himmel recht ins Herz hinein und verscheucht den trüben Schatten, der sich über das Glück unserer letzten 14 Tage gelegt hat. Bei mir will ihr das zwar nicht recht gelingen, das traurige Ende unserer so schön begonnenen Freuden hat mich recht gründlich verstimmt, und da ich nicht sprechen kann, habe ich gestern den ganzen Reisetag über den Grimm und Ärger recht tief in mich hineinfressen lassen. Freilich waren die ersten 8 Tage wunderschön, aber ich hatte doch von den zweiten noch viel mehr gehofft, da ja nun mit der Publikation am 14ten auch die letzte und einzige Schranke und Differenz gefallen war, welche unsere beiden, sonst so vollkommen verschmolzenen Seelen, noch trennte. Dazu hatte ich immer im Geheimen noch gehofft, Vater zu bewegen, mich ein paar Tage länger hier zu lassen. Das hat nun leider Alles nicht sein sollen und wir müssen uns mit den allgemeinen Redensarten trösten, deren ja die Menschen für solche Fälle eine Menge erfunden haben.

Von der gestrigen Herfahrt ist wenig zu erzählen. Das Wetter war, wie auch heute, prachtvoll, (und grade dies macht mich so ingrimmig!) || Viel lieber säh ich Regen, Sturm und Hagel, als diesen köstlichen blauen Himmel. Höchst unangenehm wurde die ganze Reise durch das Zusammensein mit Mutter, deren übertriebene Ängstlichkeit und Sorge gestern alle Grenzen überstieg und ganz unerträglich war. Ich konnte mir zuletzt nur dadurch helfen, daß ich gar nicht mehr darauf hörte und antwortete, sondern alle Predigten ruhig über mich ergehen ließ. In ihrer unruhigen Angst machte sie lauter Confusion, bezahlte z. B. der Droschke in Stettin das Doppelte und löste, statt 3, 4 Billets nach Berlin. Dann mußten wir noch 1 Stunde auf dem Bahnhof warten. Nachdem ich Dein weiß wehendes Tuch aus dem Gesicht verloren, blieb ich noch eine geraume Weile auf dem Verdeck, wurde dann zwar in die Kajüte eingesperrt, konnte es aber da nicht lange aushalten. In Stettin mußte ich die Glückwünsche v. Frl. Klara v. Brauchitsch und ihrem Bruder (Lieutenant) aushalten. Bis Neustadt hatten wir ein Coupee II Classe für uns zusammen und brieten auf den heißen Polstern unter der brennenden Sonne, in 3fache Röcke eingewickelt, recht artig. In Neustadt, wo die lieben Freienwalder (die Kinder waren auf der Fahrt sehr munter, namentlich Annechen) uns verließen, stieg Graf Haacke zu uns ein. Er hielt einen prächtigen Veilchenstrauß und schien zu seiner Braut zu fahren (?) || Hier in Berlin langten wir um 6 Uhr an und fanden Gratulationsbriefe von Kathen (der uns nächster Tage besucht), Bassewitz, A. Schubert, Gottschling, und (was mich ebenso überraschte, als erfreute) R. Hein. Das wird nun wieder eine Fluth von Antworten geben! Wie es mir jetzt hier gefällt, kannst Du Dir denken; lieber wär ich auf den Gletschern und klagte mein Leid dem Eise – oder nur irgendwo anders! Es kommt mir alles so todt, matt, trocken, ledern vor. Die liebliche Sonne, die in meinen Räumen erst Leben erweckt hatte, scheint ja noch am Ostseestrand und da muß ich schon warten mit dem Wiederaufleben, bis sie erst wieder hier ist. Vorläufig habe ich noch zu nichts Lust und Alles ist mir zuwider. Ich bin aber auch durch die herrlichen Tage, die wir inmitten der schönsten Natur zusammen durchträumt haben, zu sehr verwöhnt. Es war doch gar zu prächtig. Hab nochmals tausend Dank, mein liebstes Herz, für alle Deine Liebe und Güte. Sag auch Deiner Mutter für die außerordentlich freundliche Aufnahme und Pflege nochmals unsern besten Dank. Hoffentlich kehren diese schönen Tage noch öfter wieder, zunächst vielleicht über 2 Jahr, worauf ich mich schon jetzt in voller Hoffnung freuen möchte! ||

1 Uhr Mittags.

So eben war Quinke hier und hat mir noch cc 8 Tage Arrest prophezeit, ehe die Geschichte ganz vorüber ist. Die Diagnose: „Stomatitis catarrhalis“ d. h. catarrhalische Entzündung der Mundhöhle, war übrigens richtig und in der Behandlung hat er auch nichts Wesentliches geändert. Sie bleibt bei Boraxgurgelwasser, dabei möglichst wenig essen und sprechen. Also noch eine angenehme Aussicht für die nächste Woche! Gut wenigstens insofern, als sich nun von Besuchen und Gratulationen verschont bleibe so lange, und inzwischen wirklich einmal tüchtig in die Arbeit gehen kann, womit ich noch heute beginnen will. Quinke läßt Dich grüßen und Dir sagen, daß er vollkommen überzeugt sei, daß Du mich schon ordentlich unter dem Pantoffel habest. Übrigens verbietet er Dir das Seebaden definitiv. Vorhin waren auch die 3 Mädchen v. Onkel Julius hier, die jetzt hier wohnen. Von Tante Bertha werden wir erst heut Nachmittag etwas hören. Es geht ihr gut.

Nun ade, mein süßes Liebchen! Ängstige Dich nicht unnöthig, da das Kranksein gar nichts bedeutet. Denke vielmehr immer munter und guten Muths an Deinen treuen Erni (der sich übrigens heut in der That schon besser fühlt). Die Eltern grüßen auch beide bestens. Schreib mir recht bald!

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
23.09.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38352
ID
38352