Ernst Haeckel an Anna Sethe, Berlin, 4. September 1858
Berlin 4/9 58
Heut Abend um 6 Uhr erhielt ich Deinen lieben Brief, mein Herzensschatzchen, auf den ich mich schon den ganzen Tag über sehnsüchtiglichst gefreut hatte. Daß mich zu Anfang die Trauerbotschaft von dem längeren Bleiben der Frl. v. Brauchitsch etwas niederschlug und einen gelinden Sturm von unwilligen Verwünschungen hervorrief, kannst Du Dir denken; doch scheine ich diesmal fast etwas vernünftiger gewesen zu sein, als Du (nach Mimmis Schilderung). Ich fand mich wenigstens nach mehrstündigem Zurechtlegen ganz gut darein, und habe mir fest vorgenommen, die herrliche uns jetzt bevorstehende Zeit uns dadurch um kein Häärchen trüben zu lassen. Ach meine beste Änni, die unbeschreibliche Liebe und Sehnsucht, mit der ich an Dich unlösbar gebunden bin, und mit der ich mich jetzt jede Stunde, nein, jede Minute, freue, Dich nun so bald wieder zu haben, ist so groß und überwindet so alle Schattenseiten des Lebens, daß dieser eine, einzige Gedanke alle andern überwindet und mir den Schatten der Frl. v. Brauchitsch, der in die Sonnentage unseres nächsten Beisammenseins hineinschreitet, kaum merklich erscheinen läßt. Wenn ich an das süße Glück denke, Dich einziges, liebstes Besitzthum nun in so kurzer Zeit (in 66 Stunden! ich zähle nämlich schon seit Freitag die Stunden! und rechne gewiß darauf, daß wir Dienstag kommen) wieder zu sehen, so jauchze ich vor Wonne und finde Alles Andere gleichgültig und unbedeutend. Schon kann ich die Zeit kaum mehr erwarten. Die Tage wollen mir jetzt so lang vorkommen, wie noch nie! ||
Gewiß wirst auch Du, süßes Liebchen, Dir die herrlichen Tage, die uns jetzt bevorstehen, nicht durch Frl. v. Brauchitsch trüben lassen! Unterdrückt nicht auch bei Dir die unbeschreibliche Freude des Wiedersehens alle andern Nebenrücksichten? Was übrigens die Mittheilung unsers Geheimnisses an Helene v. Brauchitsch betrifft, so sind die Eltern und ich ganz mit Euch darin einverstanden, daß Du es ihr gleich jetzt sagst, so daß sie schon vor meiner Ankunft über meine Person und deren Bedeutung orientirt ist. Wir sind dann gewiß viel weniger genirt und sie wird uns mehr in Ruhe lassen. Ich habe endlich heut Abend auch unserm lieben Martens unsere Verlobung mitgetheilt, was mir schon lange sehr am Herzen lag. Ich mußte durchaus mit einem meiner Freunde darüber sprechen, und Martens hat mich so sehr lieb, ist ein so edler lieber, prächtiger Mensch, eine so reine, kindliche Naturseele, daß er dies Vertrauen vor Allen verdient. Du kannst Dir denken, was er für Augen machte! Zwar hatte er Manches schon errathen; doch hatte er sich immer nicht zu dem Gedanken verstehen können, daß Du meine Braut seiest, weil er mir nicht den Leichtsinn zutraute, bei den so sehr ungewissen, zweifelhaften und düstern Aussichten, die meine Zukunft in Bezug auf eine gesicherte Stellung bietet, sowie bei meinen bekannten tropischen Reiseplänen, ein so verantwortungs- und verpflichtungsvolles Verhältniß einzugehen. Im Ganzen freute er sich aber sehr darüber, pries mich sehr glücklich, und ist ein nun sehr gespannt, Dich näher kennenzulernen. || Martens fährt Mittwoch nach Misdroy, wo Prof. Braun und Virchow schon seit mehreren Wochen sind. Martens und Braun wollen mich von da aus auch einmal in Heringsdorf besuchen. –
Deinen vorletzten Brief, durch den Du, ebenso wie durch den heutigen, mich sehr, sehr erfreut hast, mein liebstes Herz, holte ich mir Mittwoch früh von Heinrich, von dem ich durch Tante Bertha erfuhr, daß er am Dienstag Abend kommen würde. Er war ein paar mal bei uns zu Mittag und mußte mir natürlich sehr viel erzählen. Heinrich läßt Dich, Mutter und Hermine schön grüßen und sagen, daß die Bestellungen alle besorgt seien. Er ist munter. Daß Du dort die herrliche Natur so genießt, freut mich sehr. Wie viel schöner wird das noch sein, wenn wir zusammen sind! Wie gewinne ich doch Alles so ganz anders lieb, was ich durch Dich, in und mit Dir, sehe und erlebe! Du einziges, bestes Mädchen! Wie eigen kam es mir vor, als ich am Mittwoch früh Dein liebes, reizendes Stübchen mit seinen Blumen und Bildern, und dem lieben trauten Plätzchen in der Sophaecke, nach so langer Trennung wieder sah! Ach und wenn ich nun erst das liebe, einzige Wesen wieder habe, was all diese Schönheiten erst belebt, ihnen Reiz und Seele einhaucht! Das ist doch das größte Glück! Oft kann ich mirs noch gar nicht denken, daß ich dessen wirklich werth bin, so ganz in einem andern Menschenherzen aufzugehen, es über Alles, Alles zu lieben, und von ihm geliebt zu werden! Meine Anna, was bist Du mir Alles! „Neues Glück, Herz, Liebe, Gott, Natur! Ich habe keinen Namen dafür! Gefühl ist Alles! Name Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsgluth!“ Du bist mir Eins und Alles! Und bald werden wir es wieder zusammenfühlen, meine Änni!! ||
Daß Du meine Alpenreise liest, und mit Vergnügen, freut mich sehr. Es war eine der glücklichsten Zeiten meines Lebens, und die Briefe sind der getreue Abdruck der großen, edlen und tiefen Empfindungen, die die herrliche Alpennatur, mit dem Meere das Großartigste, was es giebt, in der Brust eines jeden empfänglichen Menschen hervorrufen muß. Man fühlt sich in diesen eisigen, mit den reizendsten Alpenblümchen geschmückten, Gletscherhöhen, so hoch erhaben über allem kleinlichen Städte- und Menschen-Staub, selbst so gereinigt, veredelt, groß und gut, daß man dem Ideale der Gottheit ein ganzes Stück sich näher gerückt glaubt. Was werden das für selige Augenblicke sein, in denen ich mein bestes, liebstes Menschenherz (gegen das mein eignes Ich gar nicht in Betracht kommt, oder in dem es vielmehr ganz aufgeht) in dies Heiligthum einführe und ihm die edelsten, reinsten, größten Genüsse mittheile, deren der Mensch fähig ist?
– Vorige Woche hatte ich einmal ein paar recht schwache Stunden, die ich Dir aber doch nicht verschweigen kann, mein bestes Herz; Du mußt mich ja ganz kennen und hinnehmen. Der Gedanke an die lange bevorstehende Trennung, das schwere, schwere Jahr in Italien (das doch so nothwendig ist!), der mich jetzt die meiste Zeit beunruhigt und mir schon alle Reisefreude und Lust genommen hat, war neulich, verstärkt durch das bittere Gefühl schwerer Entbehrung, das mir schon diese kaum einmonatliche Trennung bereitet hat, so stark geworden, daß ich nahe daran war, die ganze Reise aufzugeben, oder wenigstens bedeutend abzukürzen und zu beschränken. Ich sprach mit Vater darüber, und daß dieser meinen Wankelmuth nicht sehr gelinde aufnahm und mir tüchtig den Kopf wusch, kannst Du denken. Zu allem innern Schmerz wurde ich noch tüchtig ausgescholten, und zuletzt half mir ein reicher, heimlicher Guß heißer Thränen am Abend im Garten, allein, das schwere, bedrängte Herz erleichtern.
Daß Du Herrn Wilde gesehen hast, hat mich amusirt! Im Ganzen ein verworrener, blasirter, eitler Narr!a
Die schönen Nelken vom Krebssee habe ich statt Deiner recht gehegt und geküsst!b
a Text weiter auf dem linken Rand von S. 3: Daß Du … eitler Narr!; b Text weiter auf dem linken Rand von S. 2: Die schönen Nelken … und geküsst!