Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, [Berlin], 31. August 1858

Dienstag 31/8 58 früh.

Erst vorgestern Mittag erhielt ich Deinen Brief, mein liebstes Herz, den Onkel Julius bei Tante Bertha zurückgelassen hatte. Hab schönsten Dank für Deine lieben, lieben Zeilen. Ich wollte meinen Reisebericht schon gestern abschicken, wurde aber im Schluß desselben gestört, und gestern Abend waren wir bei Tante Bertha. Sie und die Eltern lassen euch bestens grüßen. Alle sind munter. Wie ungeheuer ich mich auf heut über 8 Tage freue, kannst Du Dir kaum denken. Alle Gedanken den ganzen Tag über laufen nur darauf hinaus. Ich hoffe, daß Karl schon den Montag ankommen wird, so daß wir schon am 7ten fahren können; doch wollte Karl eigentlich erst dann hier ankommen. Ach was steht uns jetzt für eine herrliche Zeit bevor, mein liebstes Herz! Die muß uns dann freilich für die lange schwere folgende Trennung entschädigen. Halt Dich nur recht munter dazu. Ich hoffe, daß Du wieder ganz gesund bist, wie ich! Jetzt nur noch kurz etwas vom letzten Reisetage. || Sonntag 21/8 war ich um 3 Uhr in Jena, wo ich von Gegenbaur herzlichen Abschied nahm, um 5 Uhr in Apolda, um 6 Uhr in Kösen. Hier stieg ich aus, erquickte mich in einem köstlichen Wellenbad und wanderte dann nach dem Göttersitz und über die Kalkberge des linken Saaleufers nach Fränkenau. Um 11 Uhr früh fuhr ich nach Halle weiter, wo ich Hetzer besuchte und Nachmittags mit ihm nach Giebichenstein und auf die Kröllwitzer Bergschenke ging. Um 6 Uhr setzte ich mich wieder auf die Eisenbahn und war um 11 Uhr Abends hier in Berlin. –

Von meinem hiesigen Leben ist Nichts Neues zu berichten, da Alles immer nur ein und dasselbe Lied ist, welches Du ja kennst, mein Liebchen. Der Gedanke an Heringsdorf verscheucht jetzt alle andern und ich zähle schon die Stunden, in denen ich Berlin wieder den Rücken wende. Ach was wird das für eine köstliche Zeit sein! –

Tante Gertrud ist gestern Abend nach Aurich gereist und wird erst Mitte Oktober wieder kommen. Also hat Tante Bertha jetzt auch eine gute Zeit vor sich! Die besten Grüße und Küsse an Dich, mein herzliebstes Schatzchen!a

[Beilage: Bericht der Reise ins Schwarzatal mit Carl Gegenbaur am 20. August 1858]

Rudolstadt 20/8 58

Am Freitag wurden wir beim Erwachen sehr unangenehm überrascht, indem das herrliche Wetter der letzten 8 Tage einem dichten Landregen Platz gemacht hatte, der die ganze Landschaft in einen dichten, grauen Schleier hüllte. Ganz gleichförmig ließen sich die Wolken ruhig in den Thälern nieder und der ganze Himmel war so einförmig grau in grau gemalt, als ob er noch 8 Tage so fortregnen wollte. Das Einzige was wir da thun konnten, war Abwarten. Wir unterhielten uns über das Jenenser Fest mit mehreren andern Gästen, meist Thüringer Pastoren, die mit uns in gleicher Lage waren. Gegenbaur schimpfte über die abscheuliche Nacht, die er in den heißen weichen Federbetten mehr verschwitzt als verschlafen hatte. Einzelne gesprungene Federn der Matratze hatten ihn beständig wach gestochen und bei den Versuchen, ihnen zu entgehen, war der Bettkasten durchgebrochen. Auch stechende Insecten hatten nicht gefehlt. Ich war allein diesen Übeln durch tiefen Schlaf entgangen.

Gegen 10 Uhr hellte sich der Himmel etwas auf, der Regen ließ nach und wir nahmen ein Anerbieten der anderen Reisenden an, sie in ihrem Wagen bis Schwarzburg zu begleiten, um dann zu Fuß zurückzugehen. Die Fahrt war sehr angenehm, wie der ganze übrige Tag. Die gestrige Glühhitze war durch den Regen fortgespült und die Luft prächtig kühl und angenehm rein. Alles Grün erschien doppelt frisch, und wir konnten die Reize des lieblichen Schwarzathals nun noch in aller Muße genießen. Die Chaussee zieht sich auf dieser schönsten (weil engsten) Strecke des Schwarzathals, vom Chrysopras bis Schwarzburg (2 Stunden lang) immer im Grunde des Thals unmittelbar am linken Rand des brausenden, über Felsblöcke sprudelnden, wilden Bergstroms hin, mit dem sie die Thalsohle vollkommen ausfüllt. Beiderseits steigen steil hohe, meist dicht bewaldete Schieferberge auf, die beständig scharfe Ausläufer coulissenartig in einander hineinschieben, so daß bei jeder Biegung des Weges eine neue Ansicht überrascht. Anfangs traten auch viele groteske Felsgruppen aus dem dichten Grün hervor, mächtige, vielgestaltige, schwarze Schieferblöcke, in blättrigen, glatten Geschieben. Weiterhin fesselt der Wald allein durch die reizende Mannichfaltigkeit seiner Composition das Auge. In buntem Gemisch wechseln da beständig die schönsten Gruppen der verschiedensten Waldbäume mit einander ab. Vorwiegend bleibt aber immer das Nadelholz, namentlich die herrliche Edel- oder Weiß-Tanne (Pinus Picea) die, oben gegen Schwarzburg, allein für sich mächtige Bestände bildet, mit eben so schlanken als starken, glatten, graden, über 100ꞌ hohen Stämmen, und frisch grünen, edel gebauten, zierlich verzweigten Kronen. Kaum kann man sie anderswo schöner sehen. || Ein Stückchen vor Schwarzburg stiegen wir aus und bestiegen den Trippstein, einen herrlichen, hochgelegenen Aussichtspunkt auf der linken Thalwand, von dem man einen reizenden Blick das Schwarzathal hinauf und hinunter, und in die kesselförmige Erweiterung desselben hat, in der Schloß Schwarzburg auf einem vorspringenden Hügel liegt und von der Schwarza umflossen wird. An seinem Abhang lehnt sich das aus etwa 70 Häusern bestehende Dörfchen, zum Theil sehr niedlich in dichtes Grün versteckt, an. Der ganze Charakter der Waldlandschaft stimmte mit dem Ziegenrücker, z. B. in der Gegend der Linkenmühle, sehr überein. Speciell wurde ich an diese noch durch die vielen schönen schwarzgelben Erdmolche und schwarzen Waldschnecken erinnert, die aus den Felsritzen hervorkrochen. Unten in Schwarzburg, wo wir Mittag aßen, traf ich den Dr. Schacht aus Berlin. Um 2 Uhr machten wir uns wieder auf den Weg, schlenderten recht gemüthlich den herrlichen Weg, den wir vorher zu rasch durchfahren waren, wieder zurück und genossen im ruhigen Anschauen nach Herzenslust alle die herrlichen Naturschönheiten dieses reizenden Thals. Die Sonne hatte sich jetzt auch durch den dichten Wolkenschleier wieder Bahn gebrochen und beleuchtete prächtig die schroffen Schieferfelsen und die mannichfaltigen schönen Baumgruppen.

Wir begegneten vielen von Jena kommenden, singenden Studentengesellschaften. Zuletzt kam uns auch ein nettes junges Ehepaar entgegen, offenbar auf einer Fußwanderung begriffen (der Mann war mit einem großen Tornister, die Frau mit 2 Plaids bepackt). Ich dachte an Louis Mulder (auch noch an etwas Anderes!) und konnte nicht umhin, Gegenbaur diese Art zu reisen sehr zu empfehlen und ihn mit seiner künftigen Frau Ordinaria zu necken. Im Chrysopras tranken wir Kaffee. Um 5 Uhr gingen wir von da in 1½ Stunden nach Rudolstadt zurück, diesmal nicht über den Berg, den geraden Weg, den wir gestern gemacht hatten (mit schönen Blicken in das Saalthal auf die Ruine Greifenstein und das Städtchen Blankenburg) sondern den weiteren, in rechtem Winkel gebogenen Weg durch das Thal, erst der Schwarza, dann der Saale entlang. Er hat auch seine Reize. Zwar wird das Thal hier viel weiter und flacher, aber der fruchtbare, bebaute und mit Dörfern bedeckte Boden desselben, die Abwechselung der gelben Kornfelder und grünen Wiesen, die mannichfaltige Gestaltung der Bergabhänge und der weite Blick in das Saalthal hinauf geben dem Bilde viel Leben. Aus der Ferne glänzten rechts das Schloß von Saalfeld und weiterhin die eigenthümlich vorweltlichen Korallenbänke, welche sich bis Poeßneck hinziehen und mich recht lebhaft an das liebe Ziegenrück erinnerten, das hier so nah lag und das ich so gerne wiedergesehen hätte. Überhaupt zogen mich die alten lieben Berge so mächtig an, daß ich, hätte ich Zeit gehabt, gewiß noch längere Zeit in dem schönen Thüringen herumgestrichen wäre. Doch tröstete mich die noch weit schönere Aussicht auf die bevorstehende Ostseereise. Vor Rudolstadt kamen wir durch Volkstedt, das Dorf, worin Schiller lange gewohnt hatte. Während Gegenbaur in Rudolstadt sich ausruhte, bestieg ich noch den Berg, welcher über dem Rudolstädter Schlosse sich weit gegen Zeigerhain hin, erstreckte und wurde noch durch viele prächtige Blicke auf das Thalkreuz und die gegenüber liegenden Berge belohnt. Es war ein herrlicher Abend. Beim Rückweg traf ich noch auf eine Stelle, die ein schönes Aquarell gegeben hätte. Mitten in dichtem tiefen Kiefernwalde war eine nackte Felsengruppe, über der alte, hohe Föhrenstämme, mehrfach durch Sturm oder Blitz geknickt, wild übereinander geworfen waren. Die fliegenden Wolken an dem violetten Abendhimmel, eine rohe, moosbedeckte Ruine, der klagende Schrei eines aufgescheuchten Raubvogels, der die Stille der Nacht durchtönte und den silbernen Mondschein, der die wilde Scene, öfter verdunkelt, mit ungewissem Lichte beschien, gaben dem ganzen Bild etwas tief ergreifendes, einsam Wildes. Erst um 9 Uhr war ich wieder in der Stadt. Um 9½ Uhr fuhren wir mit der Post von Rudolstadt nach Jena, ich allein von da weiter nach Apolda.

a Text weiter auf dem linken Rand von S. 1: Die besten Grüße … herzliebstes Schatzchen!

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
31.08.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38348
ID
38348