Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Berlin, 26. August 1858

Berlin 26/8 58 früh

III.

Gestern Abend erst spät kam Dein lieber Brief, mein bestes Herz, auf den ich den ganzen Tag sehnlichst gehofft hatte. Ich wußte aber ganz sicher, daß einer kommen würde. Hab einen herzlichen Kuß zum Dank dafür. Das ist ja recht nett, daß Du auch so hübsche Tage dort froh verlebt hast. Vor allem habe ich mich aber gefreut, daß Du wieder gesund bist und in der herrlichen See baden kannst. Aber schone Dich noch etwas, damit Du auch den Rest des bösen Hustens bald los wirst. Ich wollte Dir gleich gestern Abend auf Deine lieben, lieben Zeilen antworten, als August Merkel kam und mein Sinnen störte. Nun soll der Brief aber auch noch heute früh fort, damit ich recht bald wieder eine liebe Antwort bekomme. Die weitere Beschreibung meiner Jenenser Fahrt sollst Du nächstens haben und ich will Dir dafür heut lieber etwas von meinem jetzigen Leben hier in Berlin sagen. Freilich ist da im ganzen herzlich wenig Abwechslung und die Hauptsache ist stete, fleißiger Arbeit, zu der ich diese 14 Tage hindurch meine besten Kräfte aufbiete, damit ich dann nachher im lieben Heringsdorf mit desto mehr Recht mich dem Jolie far niente hingeben kann. Den ganzen Vormittag arbeite ich jetzt auf dem zootomischen Museum, dessen Directorium jetzt ich und Hartmann repraesentiren. Die Vice-Direction nämlich, Guido Wagner und Lieberkühn, sind mit Max Schultze auf 4 Wochen nach Triest und Venedig und haben mir und Hartmann die Schlüssel und die Obhut des ganzen Museums für diese Zeit anvertraut. Wir sind natürlich auf unser hohes Amt nicht wenig stolz und empfangen mit (mir sehr lächerlicher) würdevoller Haltung die fremden Gäste, welche das Museum sehen wollen und die wir darin herum führen. Das Beste dabei aber ist daß wir nun die allerbeste Gelegenheit und freie Macht haben, uns alle die herrlichen Schätze dieser unvergleichlichen Müllerschen Sammlung gründlich anzusehen und dieses Glück benutzen wir denn auch aufs beste. Ich meinestheils bin besonders mit den ausgezeichneten Präparaten der Echinodermen, Polypen und Gliederthiere beschäftigt, da ich die Molluscen bereits im Sommer durchgenommen habe. Doch sehe ich mir nebenbei auch die histologische Sammlung an, soviel als es die knappe Zeit nur immer gestatten will. || Den Nachmittag mache ich Auszüge aus Müllers Archiv und andern zoologischen und anatomischen Schriften, für die Reise. Am traurigsten ist der Abend, wo ich meist gar nicht weiß, wie ich den Gedanken an meine liebe Kleine nur auf Minuten verbannen soll. Alles was ich da vornehme, ist nur halb gethan.

Dazu ist noch jetzt der wundervolle Vollmondschein so verführerisch, daß meine Gedanken immer alle mit ihm auf und davon, nach der Ostsee (die mir noch sonst so gleichgültig war) eilen. Vorgestern, als ich noch bis ½1 an Dich geschrieben, ließ er mir dann nicht einmal im Bett Ruhe und schien mir so blinkend und freundlich ins Schlafzimmer, daß ich wohl noch über 1 Stunde wach lag und beinah aufgestanden und nach dem Hafenplatz hinausgelaufen wäre, um mir die unvergeßliche Nacht des 4ten Mai wieder hinzuzaubern, wo der liebe Freund, im Kanal sich wunderbar spiegelnd und mit den rothen glühenden Coaksfeuern den schönsten Contrast bildend, beim Nachtigallenschlag zum ersten mal mein lautes Gelübde gehört hatte, Dir allein ewig, ewig anzugehören. Wenn ich mir diese, wie so viele andere schöne Stunden dieses Sommers wieder vor Augen rufe, so fällt mir jetzt immer das schöne Lied ein, in dem Du die Erinnerung mit einem klaren Waldbach vergleichst, der alle die dunkeln, häßlichen Erdentheilchen zu Boden fallen läßt oder fortspült, und uns nur die schönen Silberwellchen des Erlebten vor Augen zaubert. Das macht auch allein die Erinnerung an die Reisen, die ja die reichsten und fruchtbarsten Lebensmomente sind, so werthvoll, daß einem diese Erinnerung lieber, als die Reise selbst ist. Man denkt dann immer nur das Schöne und Gute und vergißt gern alles Dunkle, Böse und Häßliche. O, liebste Änni, vergiß auch Du alle die trüben, düsteren Stunden, die Dir mein zweifelnder, im Dunkeln irrender Sinn diesen Sommer bereitet, und behalte nur die schönen, hellen Augenblicke, wo er durch Deine Liebe zum Glauben und zur Hoffnung erhoben wurde und im süßesten Hingeben die in der Wissenschaft umsonst ersehnte und gesuchte Friedensruhe fand. Du sollst ja künftig auch nur den bessern, den lieben Menschen, sehen, das will ich mit allen Kräften erstreben. || Am Sonntag Mittag waren wir, wie ich Dir schon schrieb, bei Tante Bertha. Montag (23/8) Abends bei Frau Professor Weiß, wo jetzt die berühmte Reisende Ida Pfeiffer ist. Es war mir sehr interessant, sie kennen zu lernen. Leider ist sie in einem körperlich höchst elenden Zustande, da sie seit 15 Monaten an einer der schlimmsten Formen des Tropenfiebers leidet, das sie von Madagaskar mitgebracht. Sie ist so elend, daß sie vom Hamburger Hospital aus kaum hergefördert werden konnte und man nicht weiß, wie sie weiter in ihre Heimath (Wien) gefördert werden soll. Trotzdem war sie, als wir sie sahen, geistig höchst munter und lebhaft und freute sich, in mir einen künftigen Tropenreisenden kennen zu lernen (so stellte nämlich die Professor Weiß mich, ihren „lieben, jungen Freund“ ihr vor!). Sie meinte, daß sie noch heute dieselben Reisen wieder augenblicks antreten werde, wenn sie auch wüßte, daß sie noch 10 mal elender zurückkommen werde. Solchen Wissensdurst, durch solche energische Thatkraft gestützt, sind bei einer Frau in der That etwas außerordentliches, und mein einer innerer Mensch (der wissenschaftliche nämlich, nicht der liebe!) schämte sich dabei nicht wenig, als er dachte, daß er auch solche Tropenpläne so lange und innig gehegt, und sie nun so rasch und lebhaft um eines gewissen kleinen Wesens willen aufgegeben habe. Und trotz ihrer Gelehrsamkeit, trotz ihres auffallenden Wissens, einer Welt- und Menschen-Kenntniß, die sie z. B. die Dogmen ihrer katholischen Konfession als blauen Dunst ansehen und verachten läßt, hat sich diese Frau dennoch eine so liebenswürdige Weiblichkeit, eine so anziehende, naive, kindliche Natürlichkeit bewahrt, daß ich nur ungern nach kurzer Unterhaltung von ihr schied. Übrigens verschlimmert sich ihr Zustand doch immer mehr, so daß die Ärmste vielleicht nicht einmal in ihrer Heimath, derer sie mit rührender Anhänglichkeit in dem gemüthlichen Dialecte gedacht, sterben wird. Der ganze Besuch hat mich sehr angegriffen. Das war das einzige Außertägliche, was ich in diesen Tagen jetzt hier hatte. Sonst haspelt sich das Alltags-Arbeitsleben sehr gleichmäßig ab, da gerade jetzt die Zeit ist, wo Berlin || wie ausgestorben ist. Alle Bekannten und Freunde (mit Ausnahme der genannten Wenigen), auch die meisten Professoren, sind fort. Die Bibliothek, mein „nutrinentum spiritus“, ist geschlossen. Um so besser kann ich da immer alle arbeitsfreien Augenblicke meinem lieben, süßen Schätzchen widmen, das mir immer vor Augen und Sinnen ist. Jetzt sinds ja nur noch 12 Tage! O wie herrlich wird das Wiedersehen sein! Inliegend schicke ich Dir auch ein paar hübsche Lieder von alten Jenenser Studenten mit, die, wie auch viele andere, am Feste gesungen wurden. Wenn Du Dir die Nationalzeitung vom 14ten bis 21ten August verschaffen kannst, so wirst Du darin die beste Beschreibung des Jenenser Festes und ein paar recht gute Leitartikel finden. Übrigens ist es nicht nur meine specielle, sondern allgemeine Einsicht aller Liberalen, daß das Fest in jeder Beziehung über alle Erwartung schön und gut abgelaufen ist. Der frische jugendliche deutsche Geist, der voll Freiheitsliebe und Einheitsstreben Alles durchdrang, und wie ein Nachwehen der großen reformatorischen Zeit, in der vor 300 Jahren Johann Friedrich die Universität gründete, die verschiedenste Alters- und Fach-Genossen vereinte, wurde auch nicht durch den leisesten Misklang gestört. Allea Männer des Dunkels und des Rückschritts waren in instinktartiger Vorahnung weggebliebenb und von Junkern war ebenso wenig als von Pietisten etwas zu sehen. Auch die Corps (die überhaupt in Jena sehr schwach sind) als die Vertreter des aristokratischen, hohlen, aufgeblasenen, renommistischen Junkerwesens, machten sich kaum bemerkbar und traten ganz in den Hintergrund gegen die Burschenschaften, die auf demokratischer, mindestens sehr liberaler Basis nach Gleichheit der Rechte, Freiheit in Wort und That streben und eben wegen dieser Bestrebungen schon seit Jahrzehnten hier die heftigsten Anfechtungen zu erdulden hatten. Auch in der Art, wie die Studenten sich gegen die Professoren, und diese unter einander stellten, lag so viel Nettes, dass der Wunsch, später einmal in dem lieben Jena zu dociren, dadurch nur noch viel lebhafter geworden ist.

Tante Bertha geht es gut, ebenso den Alten. Sie lassen euch alle bestens grüßen. Dir, liebster Schatz 1000 herzinnige Grüße und Küsse von Deinem treuen Erni.

Schreib mir nur recht bald wieder.

Tante Julchen war gestern schon abgereist. Wir haben den Brief nachgeschickt.

a gestr.: Alter; b eingef.: weggeblieben

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
26.08.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38347
ID
38347