Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Berlin, 1. Juli 1860

Berlin 1. Juli 1860

Sonntag Abends!

Endlich, endlich habe ich den heiß ersehnten Brief in Händen, mein bester Herzensschatz und sende Dir auf der Stelle den schönsten Dank dafür! Du glaubst nicht, wie ich mich alle vorigen Tage, besonders aber gestern und heute, um Nachrichten von Dir gebangt habe! Heut in Potsdam wo wir bei Tante Bertha Mutters Geburtstag feierten, war mir so sehnsüchtig bekommen zu Muthe, daß ich recht unbrauchbar war, fast gar nicht sprach und mit allen meinen Gedanken weitab im Westen bei meiner besseren Lebenshälfte weilte. Schon gestern hatte ich mit Bestimmtheit den Geburtstagsgruß aus Ems erwartet und fuhr nun heute, als er nicht gekommen, so traurig und düster herüber nach Potsdam, daß ich mir von vornherein nicht viel Gutes versprach. Mit dem verwünschten Potsdam habe ich nun einmal entschiedenes Unglück. Abgesehen von dem ersten u. größten, dem nämlich, daß ich dort geboren bin, sind auch alle meine spätern Ausflüge dorthin mehr oder weniger verunglückt, – wie Du leider nur zu gut weißt – und heute, da mein guter Engel fehlte, war nun vollends Nichts Rechts anzufangen. Ich war so still und melancholisch, daß Tante Bertha und die andern Verwandten sich recht über diesen Zustand nach einer italischen Reise gewundert haben werden, und ruhiger und freier athmete ich erst, als ich am Abend mit dem ersten Retourzuge wieder herüber fahren konnte, trotzdem Tante Bertha, Theodor unda die Andern zurückbleibenden mich arg neckten und verhöhnten. Aber das sehnsüchtige Herz hatte mich dies mal nicht getäuscht und auf dem Tisch lag der liebe herzige Brief, für den Du dies mal einen ganz besonderen Kuß haben sollst, da er mich durch die frohe Nachricht Deiner entschiedenen Besserung ganz besonders hoch erfreut hat. ||

Ach, Du beste, liebste Anna, wie oft und wie viel ich Dir auch immer von meiner innigsten, herzlichsten Liebe gesagt und geschrieben habe und wie sehr Du davon überzeugt und durchdrungen bist, immer ist es mir doch, als kanntest Du diesen unerschöpflichen Schatz der reichsten Liebe noch nicht hinlänglich und als müßt ich Dir immer und immer wiederholen, wie Du mich so ganz und gar erfüllst und beglückst. Kaum habe ich das noch je so innig und tief gefühlt wie in den letzten beiden Wochen. Erst kamen die herrlichen glücklichen 8 Tage in unserm lieben herrlichen Thüringen, wo mir das alte warme Naturherz, der frische deutsche Jugendsinn so ganz wieder aufging und wo mir nichts zum reizendsten Glück fehlte, als eben nur das Beste, der reine Spiegel, der alle meine Gedanken und Empfindungen klarer und besser macht, Deine herzige, prächtige Seele, die mich so ganz versteht und aus dem vollen und tiefen, aber rohen und ungeformten Material erst das wahre, gute Bild formen oder wandeln wird.

Ach, Liebchen, hätte ich Dich in Eisenach und Coburg, im Annathal und auf der Wartburg, in Jena und seinen reizenden Umgebungen auch nur auf ein paar Stunden bei mir haben können, wie hätte ich glückselig sein und jubeln wollen. Und doch habe ich das tiefe innigste Bedürfniß, Dir nah zu sein, Gedanke um Gedanke mit Dir auszutauschen, doch fast noch lebhafter in der folgenden, der letztverflossenen Woche, gefühlt, wo ich Deine liebe beglückende Nähe wohl mehr entbehrt habe. Alles was ich in Thüringen Gutes und Liebes erlebt und erfahren, die süßen Zukunftshoffnungen, die sich daran anknüpfen, wie gern hätte ich über das Alles mich ordentlich und gründlich mit Dir ausgesprochen. In solchen Fällen, wo solch eine Masse verschiedener Gedanken sich begegnen und verschiedene Rücksichten in Frage kommen, ist doch die Feder ein gar zu dürftiges Hilfsmittel || die vielen Überlegungen in Folge der Jenenser Frage, das Hin- und Wieder Reden, der widersprechende Rath meiner Freunde, hatten mich zuletzt so mürbe gemacht, daß mir die ganze Sache, die mich zuerst so sehr erfreute, zuletzt ganz zuwider wurde, und mir die letzten Tage recht verbitterte. Vater und Mutter, die Weiß, Braun, sind entschieden dafür daß ich erst das Radiolarien Werk fertig mache; dagegen Bezold, Gegenbaur, Schneider, Peters ebenso dafür, daß ich um keinen Preis diese äußerst günstige Gelegenheit, mich in Jena festzusetzen, überhaupt vorübergehen lasse. Wüßte ich nur sicher, daß mir kein Anderer zuvor käme und daß ich deßhalb die Professur nicht später erhielte, so würde ich natürlich am Liebsten mir erst die Radiolarien vom Halse schaffen und mit Ruhe und vernünftiger Überlegung für Ostern Alles vorbereiten. So aber, da b Gegenbaurs Assistent (den er natürlich nicht hindern kann) mir vielleicht die herrliche Gelegenheit vor der Nase wegnimmt, oder irgend Etwas Anders dazwischen kömmt, schwebe ich natürlich in steter Angst, durch das Aufschieben der Habilitation mir selbst zu schaden und das Ziel unserer sehnlichsten Wünsche weiter hinauszuschieben. Das letztere, die innigste Sehnsucht nach unserer endlichen, glückseligen Vereinigung, nach unserm steten, ungetrübten Beisammenleben (was ich mir immer mehr, täglich intensiver, als das reizendste Paradies vorstelle) beschäftigte mich in dieser letzten Woche so sehr und so beständig, daß ich darüber fast zu Nichts Rechtem gekommen bin. Vergeblich rief ich mir meinen alten Mahnspruch zu: „die Sehnsucht und der Träume Weber, sie sind der weichen Seele süß – doch edler ist ein starkes Streben und macht des schönen Traums gewiß!“ – Vergeblich setze ich die Härtungsversuche des weichen Herzens fort, – das dumme Ding ist nun einmal so weich und traumhaft, so von der kleinen blonden Circe bezaubert und entzückt, daß alle Vernunft Nichts dagegen ausrichtet. ||

Ach, beste Änni, gewiß, erst wenn wir ganz vereint sind, erst wenn wir in ungestörter Harmonie glückselig zusammen leben, kann ich hoffen meine alte Spannkraft und Arbeitsausdauer wieder zu erlangen. So lange noch die beständige Sehnsucht, das unbefriedigte Streben den ganzen Sinn theilt und befangen hält, kann ich unmöglich der einst so geliebten alten Wissenschaft zu ihrem früheren Rechte verhelfen, von der ein ungleich stärkerer Magnet mich unaufhörlich abzieht.

Gewiß wirst Du es natürlich finden, daß alle diese Gedankenreihen mich jetzt wieder besonders stark erregen und bewegen, wo sie durch unser liebes Jena und die daran geknüpften süßen Hoffnungen neue Nahrung erhalten haben. Ich kann Dir nicht sagen, wie traurig ich mir dabei ohne Dich, in meiner Halbheit vorkomme. Um meinetwillen allein möchte ich wirklich keine Minute länger so leben. Wenn ich nicht hoffte und wüßte, daß ich durch Dich doch noch einmal zur Ruhe und zum Frieden, zur kräftigen Arbeit und zum vollen lohnenden Genuß gelangte – dann möchte ich wirklich diese ganze Welt, in die meine Existenz gebannt ist, mit allen ihren Fesseln und Banden keck über den Haufen stoßen. So aber werden mir die Verzweiflungsgedanken und der Lebensüberdruß nur durch die einzige, süßeste Hoffnung ferngehalten, in Deinem vollen Besitze, Du bester Schatz, doch noch einmal das Leben achten, lieben und verwerthen zu lernen. Ich spreche Dir das Alles gewiß recht dumm aus, liebste Änni, und doch hat es mich die ganzen Tage her so viel und so beständig bewegt, daß ich meine, Du müßtest mich verstehen! Ach, habe ich Dich nur erst wieder, wie wird Dir da ein einziger Kuß das Alles so ganz anders sagen. Du glaubst kaum, wie ich mich danach sehne! Mir ist immer zu Muthe, als hätten wir uns die 5 Wochen über seit Italien gar nicht ordentlich genossen und recht ausgesprochen. Das müssen wir Alles noch ordentlich nachholen! Das soll mal in Freienwalde und Heringsdorf eine Lust und Freude werden, nicht wahr?

[Briefschluss fehlt]

a eingef.: Tante Bertha, Theodor und; b gestr.: mir

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
01.07.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38300
ID
38300