Ernst Haeckel an Anna Sethe, Messina, 31. Januar 1860

Messina Dienstag 31.1.60.

Endlich, endlich, meine liebste, beste Herzens-Anni, ist heut richtig wieder ein Brief eingetroffen, nachdem ich ganze 14 Tage ohne Nachricht von Dir gewesen bin. Das waren böse, lange 14 Tage; Du glaubst nicht, wie lang sie mir geworden sind u. wie ungeduldig ich diesmal den Vapore erwartete: Eigentlich ist heute der ganze Tag damit verloren gegangen. Denn so oft bin ich den ganzen Tag über ans Fenster gesprungen, um endlich, endlich die ersehnte Rauchwolke zu erblicken, daß ich gar nicht gearbeitet habe. Zwar saß ich immer hinter dem Mikroskop und am schönsten Material mangelte es, wie gewöhnlich nicht – aber alle die schönen „Seeaugen“ (Haliomma – eine der zierlichsten Radioalarien –) verwandelten sich unwillkürlich in meiner Änni strahlende Augen, und alle die zarten feinen 1000 und aber 1000 Fäden, die meine reizenden Acanthometren überall hin ausstreckten – (es sind dies ihre einzigen Organe, mit denen sie alle Functionen zugleich verrichteten) alle diesen feinen zarten und doch so starken und wesentlichen Fäden scheinen mir nur die vielen 1000 löslichen Seelenbande zu sein, mit denen meinen Gedanken und Sinnen an Deine Gesellschaft sind und schon nicht einmal mehr minutenlang sich davon trennen können. Bist Du jedoch mein Ein und Alles, durch Dich wird mir erst alles schön und werth; das Leben, das ich vorher, ehe ich Dein war, schelt und mißachtete, wird mir durch Dich eine bewunderswertheste Quelle unaussprechlicher Glückseligkeit, selbst bei all meinen Naturgenüssen und Naturforscherideen, die mir früher an sich das höchste waren, ist jetzt immer der Hauptgedanke: „Was wird aber erst Deine Änni dazu sagen!“ Jeder Fund, jede Entdeckung, die mich hier bei meiner reichen Arbeit beglückt, macht mir die meiste Freude, nicht wie früher durch sich selbst, sondern durch die Beziehung zu Dir, meinem Ein und Alles, meine Süße u. Beste. ||

Eigentlich hatte ich heute gehofft, durch 2 Briefe für den Mangel der vorigen Woche entschädigt zu werden und wartete deßhalb den ganzen Tag mit doppelter Ungeduld. Der Vapore traf heut nämlich erst sehr spät, am Nachmittag ein und ich erhielt den Brief erst, als ich das Tagewerk wieder schließen mußte, gegen Abend. Leider kam aber nur einer und zwar der letzte, vom 25.1. datirte u. der vorletzte, den Du vermuthlich am 18.1. abgeschickt hast, ist also nicht verspätete, wie ich vermuthete, sondern verloren gegangen, vielleicht auch von Polizei wegen confiscirt, in Folge der dummen Theatergeschichte, von der ich Dir letzthin geschrieben habe. Vielleicht haben sich die officiellen Polizeileute durch den Augenschein überzeugen wollen, ob in der That keine staatsgefährliche Correspondenz von diesem, des schuldigen Respects gegen den König so entbehrenden Individuo getrieben wird. Da werden sie so herrlich wenig genug in Deinem Briefe gefunden haben! Daß er aber gerade vorige Woche ausblieb, wundert mich um so mehr, als ich wirklich wegen des im vorletzten Brief gemeldeten Unwohlseins, der Appetit- und Schlaflosigkeit, etwas besorgt war. Glücklicherweise bringt mir Dein heutiger lieber Brief, aus dem wieder ganz meine alte, herzig muntere Änni spricht, bessere Nachrichten und hoffe und wünsche ich nur von ganzem Herzen, daß Du so munter bleibst und brav schläfst und nicht hungerst, damit Dich Dein Erni wieder ganz munter wohlauf findet. Es ist übrigens wirklich zu weit getriebene Sympathie, daß Du auch immer grade unwohl sein mußt, wenn ich nicht recht munter bin. Die vorige Woche, die letzte des Monats, war mir gar nicht wohl zu Muthe und ich wollte, ich könnte sie aus dem Winter streichen. Wie ich Dir wohl schon letzthin schrieb, hatte ich mich, wieder mit fortgesetzten Nachtarbeiten übernommen und namentlich war mir mehrere Nächte fortgesetztes Microscopiren schlecht bekommen. ||

Um mich aus der allgemeinen geistigen und körperlichen Verstimmung, in der mich diese etwas zu sehr forcirten Bestrebungen schon die ganze vorige Woche erhalten hatten, herauszureißen, beschloß ich, mein alles erprobtes Heilmittel wieder anzuwenden, eine tüchtige Fußtour. Die damit verbundene totale Durchschüttelung des ganzen Körpers hatte dann auch den gewünschten Erfolg, und nachdem meine Glieder einige Tage halb zerschlagen waren, war ich wieder ganz munter und wohlauf. – Sonntag 29.1. – An einem wunderherrlichen Frühlingstage, begab ich mich also auf die Wanderung und zwar führte ich meinen schon längst gehegten Vorsatz aus, den Antennamare zu besteigen, den höchsten Gipfel der ganzen vielzackigen Bergenkette, die von der Nordostspitze Siciliens (dem 2 Stunden entfernten Cap di Faro) längs seiner Ostküste bis zum Etna zieht. Da die Besteigung ziemlich beschwerlich ist und einige Anstrengung und Sicherheit im Klettern erfordert, so wird sie nur sehr selten unternommen und selbst Herr Klostermann, der für den besten hiesigen Fußgänger gilt, war noch nicht oben gewesen. Wie er mir sagt, ist die Erhebung des Berges über dem Meere 4500 Fuß (also 1000 Fuß über dem Vesuv). Doch vermuthe ich, wenigstens nach der Zeit die ich anwandte, daß er etwas niedriger ist; ich habe mir nämlich ausprobirt (was namentlich am Vesuv sehr gut geht), daß ich, bei sehr kurzem, d. h. steilem Wege, ohne anzuhalten, in der Stunde grade ungefähr 1000 Fuß steige. (Als ich das eine Mal, ohne zu rasten, vom Meeresstrand bis zur Vesuvspitze (3500 F) aufstieg, brauchte ich grade 3½ Stunden). Hier nun brauchte ich allerdings auch nur 4½ Stunden (was also stimmen würde); allein ich ging nicht den kürzesten Weg, da ich mit dem richtigen Weg überhaupt unbekannt, aufs gradewohl lief. ||

Da ich Sonntag früh erst noch einige hübsche Radiolarien der vorigen Woche fertig zu zeichnen hatte, kam ich erst um 10½ Uhr Vormittags zum Aufbruch, was eigentlich für diese weite Tour schon zu spät war. Gewöhnlich bricht man, wie mir ein junger deutscher Kaufmann, Naeher, ein tüchtiger Bergsteiger, der einmal oben war, sagte, schon früh Morgens vor 5 Uhr auf, um möglichst Zeit zu gewinnen. Auch proviantirt man sich und zieht warme Kleider an, was ich ebenfalls nicht that. Ich hatte vielmehr, wie bei allen Excursionen, mein leichtestes Sommerzeug an. Als ich am Fuße des mächtigen Berges angelangt war und das Steigen begann, hatte ich die Idee, den Gipfel heut noch zu erreichen, selbst fast aufgegeben, und beschloß, bei der vorgerückten Zeit, mir nur seine unteren Regionen anzusehen und den Gipfel ein andermal nachzuholen. Allein als ich erst einmal halb oben war, ließ es mir keine Ruhe, bis ich auch die andere Hälfte unter mir hatte, und so hatte ich dann um 3 Uhr Nachmittags, nach 4½ stündiger, sehr angestrengtem und ununterbrochenem Steigen, den Gipfel glücklich erreicht. Um Dir einigermaßen eine Idee von dem dabei verfolgten Wege zu geben, muß ich erst ein paar Worte über den Character des Gebirgs im Allgemeinen sagen. Die ganze Erhebung vom Cap di Faro bis zum Antennamare und weiterhin bis Taormina ist eine fortlaufende Kette einzelner spitzer Kuppen, durch diese Menge kleiner Spitzen wird der erhabene Eindruck, den sonst die mächtige langhingestreckte Linie ihrer Contour machen könnte, sehr abgeschwächt.

Deßhalb sehen auch die gegenüber liegenden Bergketten Calabriens, die mehr große zusammenhängende Formen mit massigen Parthien haben, imposanter u schöner aus. ||

Nachdem ich Messina am Sonntag Vormittag verlassen und durch ein paar Dörfer an den Fuß des Gebirgs (in südwestl.icher Richtung gehend) gelangt war, betrat ich ein Fiumare, in der ich, trotzdem sie von den Regenströmen der vorigen Tage sehr gefüllt war, doch ein gut Stück am Fels wandern konnte, wobei ich viele kleine Wasserarme überspringen mußte. Bald aber wurde sie so eng, daß der Strom das ganze Bett einnahm; wodurch ich gezwungen wurde, da die Felswände seitlich sehr steil emporstiegen, in dem Wasser selbst weiter zu waten; ich that dies mit doppeltem Vergnügen, da ich mich dabei einer sehr komischen Excursion bei Nizza erinnerte, wo ich mit Koelliker und Mueller ebenfalls gezwungen war, ein paar Stunden in solch einer Fiumare fortzuwaten. Weiter oben kam ich an einen kleinen Wasserfall, der jedoch auch nach mehreren vergeblichen Versuchen, glücklich erklettert wurde. Nun gerieth ich aber in eine sehr unangenehme Lage, da ich am Rande einer sehr steilen Böschung stand, die so dicht mit Arbutus, Ulex, Ginster und andern Dornsträuchern bewachsen war, daß ich anfangs kaum wußte, wie ich mich hindurch wickeln würde. Nachdem auch diese (mit Verlust einiger Kleiderlappen) glücklich passirt war kam ich in ein weites, ziemlich gut cultivirtes Hochthal, wo ich zwischen Wein und Gemüsegärten aufwärts stieg, immer meinen Weg mir selbst suchend und nur ungefähr den Antennamare im Auge behaltend. Doch traf ich diesen recht glücklich, denn als ich mich endlich über verschiedene kleine Hügel emporgearbeitet hatte und in die eben erwähnte subalpine Region mit den immergrünen Halbsträuchern gelangt war, gewahrte ich zu meiner großen Freude, daß ich auf dem untern Fuße eines scharfen Felsgraths stand, der || grade auf den Hauptrücken zuführte. Doch hatte ich noch tüchtig zu klettern, ehe ich diesen erreichte, und als ich hier angelangt war, mußte ich auf dem sehr dünnen scharfen Rücken des vielgipfeligen Höhenzuges wohl noch 1½ Stunden bergauf steigen, zuletzt sehr steil, ehe ich die höchste Spitze, den Antennamaregipfel, glücklich erreicht hatte. Die Aussicht, die mich hier überraschte, war ganz prächtig und ließ bald alle empfundenen Beschwerden vergessen. Ich wußte nicht, ob ich den Blick nach Osten auf die herrliche blaue Meerenge und drüben Calabrien, oder nach Westen auf die Strandküste vorziehen sollte. Von der letzteren sah man ein gutes Stück, zunächst auf einer weit vorspringenden dünnen Landzunge Molazza, weiterhin Cap Tyndaro und Cap Orlando. Ganz prächtig machten sich wieder die vulkanischen Kegel der Liparischen Inseln, die wie Zauberbilder aus der dunkelblauen Fluth aufsteigen, und noch herrlicher beleuchtet waren, wie am anderen Mal, wo ich sie zuerst vom Telegraphen erblickt hatte. Die reizende vielbebaute Küste erschien um so lachender, als sie im prallen Contrast mit der öden Gebirgswildniß stand, welche sich im Süden, gegen den Etna zu aufthat, ein verworrenes Netz wild verschlungener Gebirgszüge mit sehr spärlicher Vegetation, dunkelbraun oder schwärzlich, zum Theil noch mit Schnee bedeckt, meist mit sehr scharfen, zackigen Umrissen und sehr schroff und steil in die engen Thäler abfallend. In der Ferne erkannte ich auf dem schmalen Rücken eines hohen Plateaus eine ziemlich ansehnliche Stadt, die sehr malerisch liegen muß. Der Etna selbst, der von hier im weißen Winterkleid prächtig aussehn muß, war leider in Wolken gehüllt, während alles Andere herrlich beleuchtet war. ||

Nach Westen fällt dieser lange, von NNO nach SSW streichende Bergzug theils steil gegen die nördliche Küste der Insel ab, theils senkt er sich sehr allmählich und verbindet sich mit den vielverzweigten Ausläufern des reichen Netzes von Höhenzügen, das das ganze Innere der Insel durchsetzt. Nach Osten dagegen fällt er sehr steil gegen das Meer ab und ist hier von einer Menge querer Schluchten durchfurcht, den berüchtigten „Fiumaren“ – einer Einrichtung, die man vielleicht in keinem anderen, nur einigermaßen civilisirten Lande wieder findet. „Fiumara“ bedeutet eigentlich „ausgetretener Strom“ – doch darf man dabei nicht an unsere constant fließenden Ströme denken. Solche giebt es nämlich in Sicilien überhaupt gar nicht. Die Fiumaren sind vielmehr sehr weite und flache (die kleineren auch oft sehr enge) Strombetten, welche den größten Theil des Jahres über ausgetrocknet sind, oder durch deren nacktes ebenes Kiesbett sich nur ein kleiner fadenförmiger Rest eines Wasserbaches in vielen Schlängelungen langsam durchwindet. Nur nach heftigen Regengüssen füllen sich die Finmaren, dann aber auch, da diese wie in den Tropen, sehr plötzlich und heftig hereinbrechen mit solcher Rapiditaet, daß dieser plötzlich neugeschaffene Strom in dem weiten, sonst leeren Bett kaum mehr Raum findet, dessen Grenzen überschreitet und in Gärten und Feldern die größten Verheerungen anrichtet, häufig auch Bäume und Felsenstücke mit sich fortreißt, Häuser zerstört und auf seinem kurzen Laufe zum Meere mehr Unheil anrichtet, als unsere größten Ströme auf ihrer ganzen langen Reise. Die periodischen Ströme haben umso leichteres Spiel, als fast gar keine Maßregeln ergriffen sind, ihren Verheerungen in irgend einer Art einen Damm zu setzen. Ohne durch Mauern und Brustwehren || eingedämmt oder durch Schleusen regulirt zu werden braust die ganze gewaltige Wassermasse, die ein solcher Regen aus dem Gebirge zuführt, mit einem einzigen gewaltigen Choc durch diese Kiesbetten dem Meere zu und hinterläßt oft schon nach wenigen Stunden das verwüstete Land ebenso trocken als vorher. Der gänzliche Mangel constant fließenden Wassers, der Flüsse in unserem Sinne, und die dadurch bedingte große Dürre des Landes während des größten Theils des Jahres, ist der andere große Nachtheil, den diese Fiumarenwirtschaft dem Lande bringt.

Die Ursache derselben ist lediglich in der unheilvollen gänzlichen Ausrottung der Wälder zu suchen, dieser allerunheilvollsten Maßregel der Landescultur, durch welche das fruchtbarste Land in eine Wüste verwandelt wird und durch welche die früher blühendsten Provincen von Spanien, Italien, Griechenland jetzt zu todten Einöden geworden sind. Denn die Wälder und das Moos, (– die besten hygroscopischen Wassererhalter) saugen das Wasser der Regenströme auf und conserviren es für die Zeit der Trockniß, während sie selbst dadurch zugleich frisch und blühend erhalten werden. Die Wälder sind die Quellen der Ströme und gehen mit diesen zu Grund. Ist einmal erst das Unglück ihrer Ausrottung geschehen, so läßt es sich nur mit der größten Mühe und Arbeit wieder gut machen, da das Wasser mangelt, um die nackten Berge wieder zu bepflanzen. So ist auch hier in Sicilien fast alle Hoffnung geschwunden. Auch rührt niemand eine Hand, um den Schaden zu bessern. Ja nicht einmal gegen die großen verheerenden Wirkungen der periodischen Regenströme geschieht irgend etwas, die man durch einfache Dämme und Schleusen doch in so wohlthätigen Schranken halten könnte. ||

„Pazienza!“, sagt der Italiener und läßt lieber die Hälfte seines Besitzsthums verderben, ehe er sich entschlösse, eine Hand zur Abhülfe des Übels zu rühren. Auch hat die Regierung, in deren Interesse es liegt, die Insel in möglichst jämmerlichen Zustand zu erhalten, sogar offciell verboten, dagegen einzuschreiten. Eine französische Gesellschaft hatte sich erboten, unentgeltlich Dämme und Schleusen zu bauen, wenn sie nur die Nutznießung des so gewonnenen Lands auf 50 Jahre erhielte. Allein die Concessionen wurden ihr nicht ertheilt!! Welche Masse cultivirbaren Landes auf diese Weise rein verloren geht, ist ganz unglaublich und diese Masse nimmt immer noch zu, da jeder neue Regenstrom eine Menge guten Landes von seinen Bettufern in den öden Kies der Fiumare mit hinabreißt und dem Meere zuführt.

Zwischen Catanea und Messina allein durchschreitet man einige 100 solcher Flußbetten von 50–300 Fuß Breite und hier bei Messina muß man alle paar 1000 Schritte eins passiren, so daß der zwischenliegende cultivirte Raum vielleicht nur 30–40mal so viel beträgt als der dadurch verloren gehende. Gegen das Meer nimmt ihre Breite progressiv zu, ihre Tiefe ab und sie gehen endlich mit sehr weiter Mündung in den Küstensand über. Weiter oberhalb gegen das Gebirge werden sie enger und tiefer und laufen endlich in viele enge Schluchten aus, in deren jede ein sie speisendes Bächlein herabstürzt. Hier am Fuß des Gebirges sind die Ufera auch meist mit kleinen einzelnen Wohnungen und in der Nähe der Städte sogar mit kleinen Häusern besetzt, die im Inneren der Insel völlig fehlen. In diesen Fiumaren laufen auch alle Wege ins Gebirg und nach starken Regengüssen ist dieses daher ganz unzugänglich, wie dann auch die Passage dadurch, bei dem gänzlichen Mangel aller Brücken, ganz gesperrt werden kann. ||

Das fruchtbare Land zwischen den Fiumaren wird meist von Öl- Orangen- und Citronenpflanzungen eingenommen, eingehegt von hohen Mauern, die mit Cactus und Agave bewachsen sind. Diese ziehen sich auch noch ein Stückchen an den Bergen hinan, dann folgt aber bloß Weinbau und weiter oben noch die Gemüse-, Korn- und Maisfelder. In einer bestimmten Höhe (vielleicht bei Messina ungefähr 2000–2500') hören auch diese auf und es folgt bis zum nackten felsigen Kamme des Gebirges eine breite, sehr öde Zone, welche ganz frappant an die nackten Halden der Granitalpen (in etwa 3–4000' Höhe) erinnert, wenigstens in der jetzigen Jahreszeit, wo der später sehr reiche Blumenteppich noch spärlich ist und nur durch einige Crocus, Narcyssen und andre Blüthenkinder des ersten Frühlings ersetzt wird. Überall rieseln und tropfen aus den Spalten des Gesteins ganz kleine Quellen und diese unterhalten eine sehr dichte Vegetation ganz niedriger Halbsträucher, welche ebenfalls lebhaft an die Matten der Granitalpen erinnert: vorwiegend 3–4' hohe Ericasträucher (analog den Alpenrosen (Rhododendren)) wachsen, dann Arbutus (der berühmte Horazische Erdbeerbaum), einige kleine niedrige Weiden etc. Diese sehr zusammenhängende, aber niedrige Vegetationsdecke giebt diesen Bergketten, deren Kamm sie ganz bedeckt, nicht nur in der Nähe, sondern schon aus weiter Ferne gesehen, einen ganz alpinen Character, so daß die Gebirge z.B. welche Messina rings umschließen, vom Hafen aus gesehen einen sehr großartigen Character zeigen und viel höher erscheinen, als sie in der That sind, was ich vorzüglich dieser interessanten Pflanzendecke zuschreiben möchte. ||

Der Gipfel des Antennamare selbst ist ansehnlicher steiler Kegel, der sich symmetrisch in der Mitte des Höhenzugs über den anderen Spitzen erhebt. Auf der höchsten Spitze steht eine kleine Kapelle, mit einem recht hübschen kleinen Marienbild in Marmor darunter folgende Votivtafel mit 3 Hexametern!

Hoc tibi, sancta parens „Bimari de monte“ vocata

Aere suo curant marmor sacrare coloni

Nam vetus ignifero confractum fulminis ictu. 1536

Unterhalb befanden sich mehrfache Trümmer sehr sonderbarer, halbunterirdischer Wohnungen mit mächtigen Gewölben, vom Zahn der Zeit sehr angegriffen. Es ist die Zeit war so vorgerückt und die Temperatur so eisig kalt, gewiß nahe dem Frostpunkt, wenn nicht darunter, daß ich in meinem dummen Sommerwams gewaltig fror und bald den Rückweg antrat. Ein vorher schon heftiger Nordwest hatte jetzt schon solche Intensität erreicht und wehte mit so schneidend eisiger Schärfe, daß ich, trotzdem ich immer trabte und, wo es ging, galoppirte, doch ganz steif wurde und meine Glieder kaum gelenkig halten konnte. Doch mußte ich noch ein längeres Stück längs des Hauptgrathes hingehen, da ich nicht ohne Gefahr den selben Weg hätte zurück machen können und auch einen kürzeren zurück zu finden hoffte. Das letztere war jedoch kaum der Fall, da mein aufs gerathewohl betretener oder erfundener Heraufweg in der That der kürzeste zu sein schien.

Ich ging nun auf einem weiter nördlich von der Hauptroute sich abzweigenden Felsgrathe herab, der sich in weiter vorspringender Wölbung mit seinem Fuß bis fast in den Rücken der Stadt erstreckte. Dabei genoß ich noch die herrlichsten Blicke auf die Meerenge und die Calabrischen Berge bei Abendbeleuchtung, die mir mit ihren vielen Schluchten, Riffen u. Zacken zauberischer denn je erschienen. ||

Hier oben vom Gebirge betrachtet, nimmt sich sie Meerenge immer weit mehr wie ein großer herrlicher Fluß aus, da die Bergketten, die beiderseits empor steigen, so hoch sind (der Mont aspero gegenüber 8000') daß die Breite der Meerenge dagegen ganz zurücktritt. Auch gaben ihr die vielen meisten Dörfer, die in festzusammenhängender Kette die ganze Küste gegenüber, b von Reggio bis Scilla hin, einfassen, ein sehr freundliches und lebendiges Ansehn. Besonders reizend erscheint mir immer die Form des südlichen Abfalls, der wie die schlummernden Glieder eines gewaltigen Riesenleibs sich ins Meer hineinstreckt. Ganz prächtig ist auch immer der Blick von oben auf die Stadt mit ihren Forts und dem schiffbelebten schönen Hafen. Beim weiteren Herabsteigen gerieth ich, ziemlich schon[Textverlust] wieder in ein dorniges Strauchdickicht, und als ich mich aus diesem herausgewickelt hatte, an einen steilen Abhang, den ich nicht anders als herabrutschend, passiren konnte. Nun warem aber auch die Beschwerden geendet und ich stand auf dem breiten Kiesbett der Fiumare Dicamare, die hinter dem Fort Gonzaga herum mich zur Stadt führte, in deren Thore ich erst wieder um 6 Uhr eintrat, als es schon völlig dunkel war. Ich hatte also zum Herabweg nur 2½ Stunden (allerdings niemals eigentlich gehend, sondern mehr springend und rutschend) gebraucht, ein minimum, das so leicht Niemand überbieten wird. Übrigens ist mir die sehr strapaziöse Tour ganz trefflich bekommen, und nachdem ich ein paar Tage halblahm (wie nach der ersten Tour im Frühjahr) war, bin ich jetzt wieder so munter und gesund, wie die schönen Radiolarien, die ich mir alle Morgen im Hafen fische. Das zweite Jahr (d.h. das letzte ¼ Jahr) in Italien wieder mit einigen sehr netten Entdeckungen angefangen. ||

Zum 16.2. liebster Herzensschatz, meinen innigsten Gruß und Kuß! Wir wollen ihn im Mai nachfeiern!!c

H: EHA Jena, Sign.: 38286. – 3 Dbl., 14,1 x 22,2 cm, 1 Bl, 14,1 x 22,2 cm, egh. Br., 12 S. beschr., Besitzstempel, Anstreichungen mit blauem Stift.

a gestr.: Häuser, eingef.: Ufer; b gestr.: bis; c Text am linken Rand von Seite 1, quer zur Schreibrichtung: Zum 16.2. … nachfeiern!!

Brief Metadaten

ID
38286
Gattung
Brief mit Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Italien
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich beider Sizilien
Zielort
Zielland
Deutschland
Datierung
31.01.1860
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
14
Umfang Blätter
7
Format
14,1 x 22,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38286
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Sethe, Anna; Messina; 31.01.1860; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_38286