Ernst Haeckel an Bertha Sethe, Rapallo, 30. Januar 1904
Zoologisches Institut
der Universität Jena
Rapallo
(Riviera levante)
Hôtel Eden. 30.1.1904.
Liebe Tante Bertha!
Durch Julius hörte ich, daß Deine Gesundheit einige Zeit nicht befriedigend war, sich jetzt aber wieder gebessert hat; hoffentlich hat Deine musterhafte alte Stahl-Natur inzwischen Dich wieder ganz hergestellt und Du bist wieder die „Mustertante“!
Von uns kann ich Dir wenig Interessantes berichten. Wir haben hier in Rapallo drei Wintermonate in dem kleinen stillen Eden-Hôtel (mit nur wenigen Gästen) sehr a ruhig verlebt; auf den schönen November folgte ein wechselvoller December und ziemlich kalter Januar, jedoch immer ohne Eis und Schnee. Die Heizung unserer beiden kleinen Zimmer ist genügend. ||
Ich habe die ganze Zeit tüchtig gearbeitet und eine Untersuchung über niedere Lebewesen, die mich schon lange beschäftigte, nahezu beendigt.
Morgens 5 Uhr weckt mich regelmäßig das Gebimmel der nahen Kirchenglocken; dann wird bis 12 Uhr gearbeitet, Nachmittags von 4–7. Nach dem Frühstück (12–1) gehe ich gewöhnlich 1–2 Stunden spazieren. Die Gegend ist sehr malerisch, namentlich die felsige Küste mit schönen Bäumen und das Gebirge, das den Thalkessel von Rapallo gegen Norden schließt, ganz mit Oliven und Kastanien-Wald bedeckt. Auch an schönen Gärten und Villen ist kein Mangel. Ich habe bis jetzt 20 Aquarelle gemalt. ||
Geselligen Verkehr haben wir hier nicht (außer ein paar deutschen Tischgästen). Ich bekomme aber öfter Besuch von befreundeten Collegen aus Genua, die sehr liebenswürdig und gefällig sind. Letzten Sonntag (24. Januar) war ich von ihnen nach Genua zu einem Frühstück eingeladen, zudem auch einige Collegen aus Pavia und Parma gekommen waren. Im ersten Hotel (Bristol) war ein Saal für dieses „Simposio monistico“ festlich geschmückt; die Unterhaltung war sehr lebhaft und der „Celebre filosofo da Jena“ wurde sehr gefeiert. Genua ist mit der Bahn in 1 Stunde zu erreichen. Wir werden wohl noch 3 Wochen hier in Rapallo bleiben, mindestens bis zum 22. Februar, dann noch etwas an die Riviera ponente gehen. ||
Agnes ist der ruhige und gesunde Aufenthalt hier gut bekommen; indessen hatte sie doch einige Wochen an dem üblichen Winter-Catarrh zu leiden. Von den Kindern haben wir gute Nachrichten. Walter wollen wir auf der Rückreise (Anfang April) in Sonthofen besuchen. Emma scheint in dem Sanatorium Tannenfeld einen ganz zweckmäßigen Aufenthalt zu haben.
Du kannst diese Zeilen wohl an Heinrich, Julius, Hahns etc. mittheilen.
Agnes sendet Dir mit mir herzlichste Grüße und beste Wünsche!
Stets Dein treuer alter Neffe
Ernst Haeckel.
a gestr.: still