Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Karl Haeckel, Jena, 9. Dezember 1890

Jena 9. Decb 1890

Lieber Bruder!

Seit 14 Tagen sitze ich in unaufhörlicher Manuscript und Correctur-Arbeit, um noch vor Weihnachten eine Abhandlung (v. 6 Druckbogen) „Plankton-Studien“ erscheinen zu lassen, die Ergebnisse meiner „pelagischen Fischerei“ seit 30 Jahren. Ich schicke sie Dir nächstens. Die Sache war so dringend, weil sie noch in das jetzt erscheinende Heft unserer Jena. Zeitschr. mußte. Daher bin ich seit Wochen zu keinem Briefe gekommen und kann Dir erst heute schreiben, und für Deinen Brief danken. ||

Die Überschwemmung in den letzten November Tagen war grauenhaft; ich schicke Dir beifolgend Berichte darüber. Wir persönlich haben nicht gelitten; unser Haus und mein Institut, ebenso wie unsere Gärten, liegen glücklicher weise sehr hoch; aber die Leutra schwoll fast bis zur Brücke an. Als ich am 27. auf das Institut ging, stand die Neugasse und Kahla Strasse bis zum Felsenkeller unter Wasser, ebenso der ganze tiefere Stadttheil. Viele Collegen waren zu Hause blockirt und die Vorlesungen eingestellt. Wie eine Springfluth kam das Hochwasser um 2 U. Nachts, und war um 6 U. schon wieder im Fallen. Aber die Niederung ist auch heute überschwemmt, und dann gefroren. Es folgte sofort Kälte von 8 – 10°! ||

II.

Obgleich die Sammlungen sehr reichen Ertrag geben (ich und viele Collegen 100 Mk) ist die Noth doch sehr groß. Der Anblick von Camsdorf und Wenigen Jena (jenseits der Brücke) mit den eingestürzten Häusern und dem durchbrochenem Saaldamm war wie nach einem Erdbeben. Beide Eisenbahnen sind unterbrochen und noch heute nur streckenweise fahrbar.

Die schönen Obstgärten nahe dem Badeplatz (Maurer, Jungk u. A.) sind verwüstet. In Kösen wurde die Saalbrücke fortgeschwemmt (800 Jahre alt!). Menschenleben sind hier nur etwa 6 zu beklagen (erst hieß es 12). Die höheren Stadttheile (Klinik etc) haben gar nicht gelitten. – ||

Das Wetter ist andauernd sehr rauh (heute - 8°); wenig Schnee.

– Die Geselligkeit ist diesen Winter bis jetzt mäßig, was den beiden Alten sehr recht ist; weniger Lisbeth. Diese amüsirt sich mit Schlittschuh.

– Emma bleibt noch zu Hause. a Walter scheint in München jetzt recht gut im Zuge zu sein. Agnes hatte wieder einen Anfall ihrer Nieren-Kolik; doch ist es jetzt glücklich vorüber.–

Ich werde die nächsten Monate ganz zur IV. Aufl. der Anthropogenie verwenden, und Euch wohl erst im April einen Besuch abstatten. Heinz ist munter u. mit Vorlesung zufrieden; er impft jetzt Koch’s Lymphe! Eine großartige Entdeckung! –

Mit herzlichsten Grüßen

Dein treuer

Bruder Ernst

Vaters‘ Photogr. folgen in 8 Tagen.b ||

P.S. Deinem Wunsche entsprechend sende ich Dir zugleich die 4 Bände von Irwing’s Columbus mit, für Herr Dr. Paetsch, erbitte sie jedoch zu einem bestimmten Termin (den ich Dir überlasse) zurück. In Folge vieler schlimmer Erfahrungen mit ausgeborgten Büchern bin ich jetzt in dieser Beziehung sehr zäh, und verborge gute Bücher (besonders aus Serien) nur an zuverlässige ordentl. Leute. ||

Dir, liebes Bruderherz – borge ich natürlich jederzeit Bücher sehr gern! Dasselbe gilt aber nicht für Deine Bekannten! – (Du bist in diesen und ähnlichen Beziehungen zu gefällig! – Odi profanum vulgus!)

À propos! Walter behauptet nämlich, Du hättest einige seiner Romane (ich glaube Turgenieff) nicht zurückgeschickt? – ?

a gestr.: Von; b Text am linken Seitenrand von S. 4: Vaters‘ … 8 Tagen.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
09.12.1890
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38058
ID
38058