Ernst Haeckel an Karl Haeckel, Jena, 29. Juni 1890
Jena 29 Juni 90
Lieber Bruder!
Den ganzen Juni habe ich mit Niederschreiben meiner „Algerischen Erinnerungen“ zugebracht, die vorgestern (40 Manuskript Bogen stark) an die „Deutsche Rundschau“ abgegangen sind. Sonst hätte ich Dir schon längst geschrieben! Übrigens geht es uns gut. Walter kömmt in 8 Tagen auf einige Wochen Ferien; er scheint jetzt recht erfreuliche Fortschritte zu machen und bleibt noch ein Jahr in München; der Lehrer ist sehr gut. ||
– Wir denken unsere, seit Jahren geplante südöstliche Reise (Dresden, Prag, Wien, Trient, Venedig etc – alles Agnes noch unbekannt –) Mitte August anzutreten. Da wir 4 Köpfe hoch reisen, und Walter auch eine Studien Reise ins Gebirge machen will, so werden wir wohl eine hübsche Summe brauchen. Bitte mir 2000 Mk bar im Laufe des Juli oder Anfang August zu schicken, und ferner 2000 Mk in der Creditbank disponibel zu halten, so daß [ich] sie August oder September erhalten kann. ||
Beifolgend schicke ich Dir für Minnas‘ 25. Jähriges Jubiläum am 8. Mai, unsere brüderliche Photographie; es ist meine letzte. Wenn Günther noch die Platte hat, bestelle mir gelegentlich noch ½ Dutzend.
– In der I. Hälfte Juli habe ich Besuch von Huschkes und Reimers. Wenn Tante Bertha uns in der zweiten Hälfte Juli besuchen will, wird sie uns sehr erfreuen! – Jetzt beginnt schon die Periode, wo immer viel Passanten-Besuch kömmt, so daß ich wenig arbeiten kann. ||
Gestern hatte ich Besuch von Baron v. Soden (Gouvern. von Kamerun). Er, wie alle Sachkundigen, ist der Ansicht, daß wir uns von den Engländern haben gehörig übertölpeln lassen. Unter Bismarck wäre das nicht passirt! Und das armselige Helgoland!!
– Überhaupt sehe ich in Politicis sehr pessimistisch.
– Heinz ist sehr munter und genießt, ebenso wie die lustige Lisbeth, die Jenenser Sommer-Pläsirchen (gestern Tag in Tautenburg).
Mit herzlichten Grüßen an alle Lieben
Dein treuer Bruder
Ernst