Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Jena, 30. April 1861
Dienstag 30. 4. 61.
Mit der Sonne aufgestanden, die mir jetzt alle Morgen, gerade dem Fenster meines Schlafzimmers gegenüber, hinter dem „hohen Genzich“ aufsteigend, ihren ersten goldenen Gruß schickt, sende ich euch Lieben Allen in Berlin einen frischen Thüringischen Morgengruß. Die Morgenstunden werden jetzt meine kostbarste Zeit sein und ich gewöhne mich allmählich daran, meine Wiener Lebensweise wieder anzufangen, wo ich um 10 U. zu Bett ging und um 4 U. früh aufstand. Es ist das um so thunlicher, als ich Abends im Sommer doch nichts mehr werde thun können, sondann, wenn ich von 5-6 Colleg gelesen, essen, und dann spazieren werde. Doch ist die Tagesordnung in Gemeinschaft mit den übrigen Freunden noch nicht festgestellt. Diese Woche werde ich hauptsächlich noch Visiten machen müssen, von denen ich bisher wenig absolvirt habe, da meina Koffer und Kiste mit den Kleidungsstücken erst am Freitag hier anlangten. Du hast doch nicht schon Porto dafür bezahlt, liebe Mutter? Das Heftpaket von Troschels Archiv für Naturgeschichte behalte nur vorläufig dort, liebe Mutter, bis ich darum schreibe oder schicke es gelegentlich mit.
Wenn ihr an Karl in diesen Tagen schreibt, theilt ihm den glücklichen Erfolg des I. Collegs mit und dankt ihm für seinen Brief, den ich gleichzeitig mit dem euren am Samstag erhielt. Ich schreibe ihm nächstens selber. Grüßt Tante Weiß, die Verwandten und Freunde, die ihr seht, bestens. Daß es Dir, liebe Mutter, besser geht, freut mich sehr. Mache nur so fort und strenge dich beim Wirthschaften nicht zu sehr an. Mit herzlichem Gruß euer treuer E. ||
[Grundriß-Zeichnung von Ernst Haeckels Quartier in der Böhmeschen Ziegelei in Jena]||
Über dem breiten Bücherregal neben dem Schreibtisch prangt der Arco naturale. Über der Tür rechts eine sicilische Landschaft, links das große Würzburger Bild. Außerdem ist das Zimmer noch sehr nett tapeziert, so daß es wirklich einen sehr schmucken und freundlichen Eindruck macht. Der Blick aus dem Fenster ist überaus reizend und wird mir mit jedem Tage lieber. Die Bergformen sind so schön, daß sie wirklich an Italien erinnern und die wundervollen violetten, purpurnen und orangegelben Tinten, die sie zuweilen in der Abendbeleuchtung annehmen, machen diese Illusion noch vollständiger. Die wechselnden Beleuchtungen variiren in den mannichfachsten Lichteffecten, so daß ich mich gar nicht satt daran sehen kann. Sollte ich einmal ausziehen müssen, so würde mir dieser Genuß ungemein fehlen. Die einzige, aber bedeutende Schattenseite der Wohnung scheint die nach 3 Seiten ganz frei exponirte Lage zu sein, welche im Winter die Kälte wohl sehr fühlbar machen wird. Schon in den letzten Tagen habe ich trotz mehrfacher Heitzversuche, tüchtig gefroren. Die Öfen sind schlecht und nur mit Holz heizbar. Ein paar Stunden bekommt man’s wohl warm; dann wird es aber wieder eiskalt, wie z. B. jetzt, wo ich wegen etwas steifer Hand und gelindem Zähneklappern das Briefschreiben aufstecke und mich im Gefühle meiner siegreichen ersten Vorlesung höchst befriedigt in mein Nest begebe, um warm zu werden. Schlaft wohl, ihr Lieben! Morgen Euch den Schluß!
a korr. aus: meine;