Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Wien, 5. Juli 1857

Wien 5/7 57.

Liebe Eltern!

Herzlichen Dank für eure lieben Briefe, die mich schon am Tag nach meiner Zurückkunft von der Raxalp hier trafen. Hoffentlich habt ihr inzwischen auch das unter Kreuzband geschickte Panorama der Semmeringbahn erhalten, das, wenn ich richtig berechnet habe, Dich, liebste Mutter, grade an Deinem Geburtstag antreffen mußte. Unsere Semmeringtour ging auch diesmal wieder sehr glücklich von Statten und wir haben einen ganzen Schatz der herrlichsten Alpenpflanzen mit heruntergebracht, einen Stoß von mehr als 1ꞌ Dicke. Die Gesellschaft war die gewöhnliche, d. h. die „4 blonden Nordländer“, die jeden Samstag und Sonntag dieses schönen Sommers zusammen verbummelt und verbotanisirt haben: Cowan, Krabbe, Focke u. ich. Wir machten die Tour ganz in der alten Weise, doch ohne Führer, was auch bis zum Gipfel der Raxalp sehr gut ging. Das Terrain sah aber jetzt so gänzlich verändert aus, statt der weiten Schneefelder blühende Matten, statt der starrenden Eisklüfte blumenreiche Triften, daß wir uns beim Herabweg, durch die sehr ähnliche Gestaltung der zahlreichen Kuppen und Spitzen des Raxplateaus getäuscht, doch tüchtig verirrten und einen äußerst beschwerlichen Abstieg in das Breinthal hatten, der dem an solche Touren nicht gewöhnten Krabbe und Cowan selbst bedenklich vorkam und Schwindel verursachte. Doch fanden wir dabei wenigstens eine Reihe seltener Alpenpflanzen, die uns reichlich entschädigten: Dianthus alpinus, Draba stellata, Rhododendron Chamaecistus, Ranunculus hybridus, Pedicularis foliosa, verticillata, recutita, incarnata etc. ||

Wir fuhren am Sonntag, 27/6 früh nach Payerbach und gingen wieder über Reichenau durchs Höllenthal ins Naßthal hinein. Das Höllenthal, obwohl immer sehr schön, entbehrte doch schon ganz des unaussprechlich entzückenden Frühlingsreizes, der uns bei unserm ersten Besuch wahrhaft begeisterte. Diese erste Ansicht eines Alpenthals im jungfräulichen, reinen Jugendkleide des ersten Frühlings hat etwas tief Ergreifendes, das ich nie vergessen werde. Jetzt war von alledem schon nichts mehr. Das liebliche erste Hellgrün der kurzberasten Matten, der hervorbrechenden Baumknospen, der jungen Fichten- und Lärchenhaine nicht minder als der schon im lieblichsten Kleid prangenden Buchen und Birken, – dann die klare, braune Wasserfülle des wild über Felsen tosenden, jugendstarken Waldbachs – die reine kühle Frühlingsatmosphäre unter dem tiefblauen Himmel – dies harmonische Entfalten und Auferstehen der neugebornen Natur fehlte jetzt; alles war, wie rasch erstanden, so auch schnell vorübergegangen und erstorben. Die Wiesen gemäht, die Triften beweidet, die damals leer stehenden Holzknechthütten und Almenhütten bewohnt – kurz, überall trat schon der Mensch in die Landschaft hinein und trübte ihren reinen, wilden Character. Wie anders sah es jetzt auch oben auf der Alm aus! Wir übernachteten diesmal im Oberhof im Naßthal (½ Stunde von der Singerin entfernt, übrigens noch theurer und schlechter, als diese: Einfluß v. Wien!). An der steilen Wand, an der wir in 2 Stunden zur ersten Jagdhütte emporkletterten, blühten diesmal herrlich seltene Orchideen, die wir noch nie gefunden: Orchis globosa, Cephalanthera ensifolia, die ganz reizend feine und zarte Corallorhiza innata, über die ich mich ganz besonders freute. ||

Das bei unserm ersten Besuch ganz todte und winterliche Plateau, von der ersten Jagdhütte allmählich bis zum Gipfel ansteigend, prangte jetzt im bunten Glanze der schönsten Alpenfrühlingsflora. Wir wanderten hier Schritt für Schritt dem verflossenen Frühling entgegen. Doronicum austriacum, Rosa alpina, Androsace lactea, verschiedene Veronicae species Atragene alpina etc bildeten ima dichten Rasen von Cerastium ovatum, Alsine verna etc einen bunten Teppich, auf dem zahlreiche niedliche schwarze Eidechsen sich sonnten und auf dem bunte Käfer umherschwirrten. Die Sennhütten, seit 8 Tagen wieder bezogen, boten uns köstliche Labung in reichem Ueberfluß: dicke, fette, würzige Frühlingsmilch, an der man sich, nachdem man den Milchbegriff in Wien ganz verlernt, ihn wieder klar machen konnte. Um die Almhütte blühten wahre Wälder von Rumex alpinus, Cineraria crispa, Pedicularis recutita. Weiter oben am Nordabhang der Hauptspitzen, wo wir damals nur weite Schnee- und Eisfelder überschritten, glühte und blühte es jetzt in der herrlichsten Alpenpracht: die blaue Petrocallis, rothen Silenen (acaulis) gelben Aronicum, weißen Anemonen (alpin. narcissiflora), violetten Veilchen (alpin.) in ganzen Heerden; daneben noch Reste von den damals so prachvollen Primeln (spectabilis, Auricula). Mit wahrer Wonne schwelgten wir in diesen Schätzen, unter denen sich eine Menge der seltensten noch nie gesehenen Alpenpflanzen befanden, z. B. die merkwürdige Nigritella suaveolens Koch, ein Bastard zwischen N. angustifolia und Gymnadenia conopsea. Ferner die Homogyne discolor, Dianthus alpinus etc. Auch meinen alten Liebling, das Knieholz, fand ich zum erstenmal, in großer Masse, blühend. || Nichts thut mir leid, als daß ich euch, liebste Eltern, nicht diese Tiefe und Fülle herrlichsten Genusses kann mitheilen und nachempfinden lassen, die mir die Alpennatur und in specie ihre Flora, in so reichem Maaße gewährt. Diese Naturgenüsse allein können den Aufenthalt in Wien einigermaßen lohnend machen, und einen für die 5 Wochentage entschädigen, in denen man sich mit der schrecklichen Medicin (die köstliche Physiologie natürlich ausgenommen!) abplagen muß! –

In Kapellen schliefen wir in unserer vortrefflichen Steyrischen Kneipe (Hirsch v. Wedl) in der Nacht 28–29/6 auf Stroh sehr fidel, die Betten hatten alle Wallfahrer in Beschlag genommen. Am 29/6 (dem Peter und Paul-Tag) wurden wir früh noch im Mürzthal durch den Fund der großen gelben Feuerlilie (Lilium bulbiferum) überrascht, sowie durch Chaerophyllum Villarsii. Den Rückweg über den Semmering wollten wir eigentlich zu Fuß machen. Es war aber so erschrecklich heiß, daß wir froh waren, als wir (bei 28° R im Schatten!) erst im Eisenbahnwaggon saßen, wo wir uns die Existenz durch Ablegen sämmtlicher Kleidungsstücke, exclusive Hemd und Hose, erträglich machten! –

Deinen Geburtstag, liebste Mutter, habe ich im Kreise unsres nordischen Quartetts mit Ungarwein gefeiert. Hoffentlich seid auch ihr recht vergnügt gewesen und habt meiner nicht ganz vergessen. Hoffentlich hast Du auch Dein neues Lebensjahr recht munter und gesund angetreten.

b Den nächsten Briefe schicke ich wohin?

Herzliche Grüße an Tante Bertha, Tante Weiß etc

Euer Ernst.

a eingef.: im; b gestr.: Ad

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
05.07.1857
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 37739
ID
37739