Haeckel, Ernst

Lesina Montag 27/3 71

Liebste Herzens- Agnes!

Acht Tage sitze ich nun schon auf meiner einsamen Insel und denke viele, viele Male täglich an meine liebe kleine Familie im fernen trauten Jena, an meine süße Frau und unser hoffnungsvolles kleines Kinderpaar. Rechte Sehnsucht habe ich nach Hause und sobald die Arbeit beendet ist, werden wir unser Bündel schnüren und nach Europa zurückkehren; denn in Europa glaubt man hier kaum zu leben, eher in Africa. Heute ist der Tag, wo der regelmäßige wöchentliche Dampfer von Triest kömmt, von der ganzen Insel natürlich immer mit großer Spannung erwartet, die wir theilten.

Er brachte mir denn auch wirklich ein ganzes großes Paket Briefe und Zeitungen, Briefe von Dir, von den Eltern und von meinem Bruder; alle sehr willkommen. ||

Ich hoffe sehr, daß Dein nächster Brief mir noch Erfreulicheres von der Besserung Deines Zustandes meldet, als der heutige.

Ich sehe daraus, daß Du über meinen Gratzer Brief dich sehr betrübt hast, gewiß aber noch lange nicht so, wie ich über den bösen, sehr bösen Brief von Dir, den ich in Gratz erhielt. Du wirst sehr zärtlich und lieb zu Deinem Gatten sein müssen, um dena bittereren Eindruck dieses sehr bösen und ungerechten Briefes zu verwischen. Es schien mir danach, als ob du überhaupt nichts mehr von Deinem Mann wissen und am liebsten zu Deiner Mutter zurückkehren möchtest. Ich denke, Du wirst doch inzwischen dich wieder etwas Anders besonnen und doch wenigstens etwas Liebe für Deinen armen Mann empfunden haben, der dich so sehr liebt! ||

Unser Klosterleben in Lesina ist, wie du aus beifolgender Schilderung siehst, nichts weniger als glänzend. Die beiden Hertwigs, besonders Oscar, waren anfangs über die wirklich sehr magere Kost ganz melancholisch!

Gebratenes Fleisch ist ein unbekannter Gegenstand und das tägliche öde Einerlei reducirt den Appetit auf ein Minimum. Oscar wäre am liebsten wieder gleich abgereist! Desto besser geht es mit der Hauptsache, unseren wissenschaftlichen Arbeiten. Ich habe täglich frische Kalkschwämme und die Hertwigs haben Ascidien im Überfluß. Unsere Untersuchungen sind daher in diesen acht Tagen sehr weit vorgeschritten, so weit daß wir hoffen, in 14 Tagen damit fertig zu werden.

Wir denken, am Oster- Montag (10. April) von hier abzureisen und über Ragusa nach Triest zurückzukehren, wo wir noch einige Tage bleiben wollen, um in der berühmten Bucht von Muggia zu fischen. ||

Nach Empfang dieses Briefes, der wohl ungefähr am 3. oder 4. März in Jena eintreffen wird, schicke keine Briefe und Zeitungen mehr nach Lesina ab. Denn sie brauchen doch mindestens 8 Tage, um diesen Weg zu machen und würden uns also am 11. März wahrscheinlich nicht mehr hier antreffen.

Schicke Deine Briefe von jetzt an unter der Adresse: Herrn Professor Haeckel

aus Jena

Triest (poste restante)

Die ganzen Eigenthümlichkeiten unseres Klosterlebens sind sehr possirlich und ich werde dir davon noch Viel erzählen. Mit den beiden Hertwigs komme ich sehr gut aus, besonders mit Richard. Mit Oscar ist nicht Viel los. Die Differenz zwischen beiden Brüdern scheint immer größer zu werden. Schicke die beifolgenden Blätter an die Eltern, nachdem Gegenbaur sie gelesen hat. An die Mamma, an Clärchen und Gegenbaurs herzlichste Grüße. Unserem süßen Kinder- Päärchen zärtliche Küsschen, die besten aber Dir selbst von Deinem treuen Ernst

a Dittographie für: den;

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
27.03.1871
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 37561
ID
37561