Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Ziegenrück, 9./10. April 1854

Ziegenrueck 9/4 1854

Meine lieben Ältern!

Ich befinde mich nun schon 6 Tage hier, und zwar so äußerst glücklich, munter und gesund, daß ich eigentlich aus lauter Freude noch nicht zum Schreiben gekommen bin. Auch ist diese Fidelität und Munterkeit nicht vorübergehend undmit Katzenjammer abwechselnd, wie das bei mir sonst gewöhnlich der Fall ist, sondern vielmehr merkwürdig constant und ausdauernd. Diese perpetuirliche Fidelitaet datirt von jenem wichtigen Glückstage her, an welchem ich so urplötzlich und schnell, mit einer Entschlossenheit, die mir selbst ebenso sonderbar wie meinen Freunden, vorkam, den festen Entschluß faßte, den Sommer nach Berlin zu gehen. Hoffentlich erhalte ich mir jetzt dauernd diese Frische; wenigstens werde ich mir alle Mühe dazu geben. Doch jetzt genug mit diesen Ergüssen einer glücklichen Stimmung; ich will euch nun noch einiges von meinem Leben in den letzten 14 Tagen nacherzählen. –

Am Freitag 24/3 Abends war unser netter Freundeskreis (mit dem icha leider nur zu spät in nähere Berührung gekommen war) zum letzten Mal vollzählig beisammen, und zwar in der „Rose“, wo es den besten Würzburger Wein giebt, von dem schließlich noch alle Sorten nacheinander durchprobirt wurden. Wir waren unsrer 8: Piper, Gerhard, Brummerstädt, Hein, Ich, Schuler, Boner, Strube und seelensvergnügt, sangen, scherzten und tranken [wir] bis nach Mitternacht. Obwohl alle 8 äußerst solide Häuser waren (me inclusive), so tranken wir doch sämmtlich (es war ja der Scheidetrunk!) uns einen leidlichen Zopf, so daß wir schließlich in einer ganz remarquablen Benebeltheit und süßen Bewußtlosigkeit nach Hause tanzten. Doch welcher Schrecken ergriff mich, als ich mitten in der Nacht || durch heftige antiperistaltische Bewegungen geweckt, aufwache, und merke, daß ich mich in der Lage eines wirklichen physischen Katzenjammers befand, was mir in dieser Art noch nie vorgekommen war. Nachdem ich tüchtig „gegerbt“ und meine Magen contenta so ziemlich wieder ans Tages Licht befördert hatte, schlief ich noch recht tüchtig aus, so daß ich am andern Morgen eben noch zur rechten Zeit kam, um den lieben Schweizer Freunden, Boner und Schuler, den letzten Scheidegruß zu sagen. Zugleich erfuhr ich noch zu meiner großen Genugthuung, daß die sämmtlichen 7 andern von mindestens eben so starkem Katzenjammer waren heimgesucht worden, als ich selbst, und so tröstete ich mich! Aber eine solche miseria felina varietas physica ist nicht so leicht curirt. Zwar trank ich sechs große Gläser Kaffee und machte dann einen tüchtigen Spaziergang; allein etwas rechtes wollte gar nicht dabei herauskommen, und in diesem b jammervollen Zustande nüchternen Bewußtseins faßte ich zuerst jenen großen Gedanken, Würzburg jetzt zu verlassen, was mich noch keinen Augenblick gereut hat! Es ist doch wirklich bemerkenswerth, wie die Verhältnisse auf den Mann wirken! Doch das Nähere von diesen fabelhaften Geschichten erzähle ich euch mündlich! Am folgenden Sonntag folgte diesem raschen Entschluß ein ebenso urplötzlicher 2ter, nämlich bloß noch 8 Tage in Würzburg zu bleiben (während ich anfangs noch einen ganzen Monat (April) dort hatte zubringen wollen). Dazu war aber nöthig, daß ich in dieser einen Woche alle noch übrigen Secirübungen beendigte, was mir dann auch mit der größten Praecision dadurch gelungen ist, daß ich in jenen 8 Tagen buchstäblich von früh 7 bis Abends 7 (mit Ausnahme von 3 Nachmittagen) secirt habe. Gottlob, daß ich damit fertig bin; ich freue mich herzlich darob. Ich bins jetzt aber auch so satt, daß ich nur noch mit Ekel daran denke. || Ich war, wie gesagt, die letzte Woche in Würzburg äußerst fidel. An einem schönen Nachmittag besuchte ich noch Steudner auf der Festung, wo er jetzt 3 Monat sitzen muß. Er hat ein sehr schönes großes Zimmer mit herrlicher Aussicht, und lebt auch im Übrigen da oben äußerst fidel, spielt, trinkt etc. Dann ging ich auch noch zum letzten Mal in den Zeller Wald, um Abschied von [der] mir doch recht lieb gewordnen Würzburger Gegend zu nehmen. Im Suchen und Finden niedlicher Moose verirrte ich mich in dem großen schönen Laubwald ziemlich weit, so daß ich erst nach mehreren Stunden wieder herauskam. Am letzten März machte ich Abschiedsbesuche, bei Müller, Virchow, Leydig (den ich außerordentlich lieb gewonnen habe, und bei dem ich fast einen ganzen Vormittag war) und bei Kölliker, welcher mir Schriften an Johannes Mueller und A. Braun mitgab. Am Sonntag dem 2ten April packte ich meine sämmtlichen Siebensachen, und zwar in einem Streich von früh 5 Uhr bis Mittags 1 Uhr wo ich glücklich fertig war. Wenn die Sachen in Berlin ankommen, so laßt ihr sie wohl bis zu meiner Ankunft unausgepackt stehen. Es sind 6 Stück: 1) eine große hohe Kiste gez. HN 4c von Würzburg nach Berlin mit Büchern, Knochen, Kleinigkeiten etc. 2) Eine zweyte, niedere Kiste d mit Schloß gez: E. H N. 3 Berlin mit Pflanzen und Büchern 3) eine kleine Kiste mit Bücherne, gez. H 14. von Würzburg nach Berlin 4) Eine kleine Kiste, gez. H. E. H. nach Berlin von Würzburg mit Bocksbeuteln und andern Glassachen. 5) Ein schwarzer Lederkoffer, mit Wäsche, vorn mit gelbem Blechschild 6) Ein großer Leinwandsack, enthaltend 1 Matratze, Pelz und Betten etc. ||

Der Sonntagnachmittag des 2ten Aprils war ein wahrer Junitag. Nach dem Essen gingen wir Freunde zum letzten male nach Smolensk wo wir im Garten in bloßen Hemdsärmeln Kaffee tranken und dabei schwitzten. Dann ging ich solo noch einmal auf das rothe Kreuz, wo man einen schönen Überblick über das ganze Mainthal hat, und wo ich mir zum letzten mal das allerliebste Zwergmoos Guembelia crinita holte, das in Millionen von Individuen die Weinbergsmauern wie ein Mausepelz überzieht (auch fand ich schon die schöne Anemone Pulsatilla in voller Blüthe). Schließlich bummelte ich noch mit Hein und Brummerstädt sehr gemüthlich den Main entlang. Daß ich durch diese Bewegung den ganzen Tag recht müde war, könnt ihr euch denken. Diese schreckliche Müdigkeit nahm Abends so zu, daß ich trotz alles Zusammennehmens fast noch am Abend bei Schenks, die mir einen Abschiedsschmaus gaben, eingeschlafen wäre. Übrigens waren sie beim Abschied noch außerordentlich freundlich. Am Montag 3/4 früh 9 Uhr fuhr ich nach herzlichem Abschied von den Freunden, die mich noch auf die Post begleitet hatten, ab. Um 1 Uhr war ich in Schweinfurt, um 3 in Bamberg. Hier blieb ich den ganzen Nachmittag, um mir die schöne alte Stadt, von der ich eigentlich noch gar nichts gesehen hatte, anzusehen. Ich besuchte zunächst den Dom, dann den Michaelsberg, von wo man f einen schönen Blick auf die Stadt und schließlich auf die noch höhere alte Burg, wo man prächtige Rundsichten g über die ganze Umgegend weit herum genießt. Dann besuchte ich noch einen Bekannten, Sippel, der jetzt schon wohlbestallter Apotheker in Bamberg ist, bummelte im Dunkeln noch etwas durch die alte Stadt und fuhr um 10 Uhr mit der Eisenbahn ab, nach Hof, wo ich um 5 Uhr früh anlangte. Um 7 Uhr war ich in Mehltheuer, wo ich 4 Stunden warten mußte. ||

Ziegenrück 10/4 54

Mit der Post, auf der ich ganz unausstehliche Gesellschaft von Leipziger Kaufleuten, gräulichen Philistern, traf, langte ich um 2 Uhr in Schleiz an, von wo ich in 2½ Stunden in schnurgrader Linie über Mönchgrün und Crispendorf, durch dick und dünn, Sumpf und Wald, nach dem Ziegenrücker Paradies herüberlief. Ein Bote trug mir meine 2 Reisesäcke. Ich selbst trug ein paar Bocksbeutel, die ich auch glücklich ganz unverletzt meinen lieben Geschwistern mitbrachte. Die ganze Reise hat mich 4 rℓ gekostet! –

Leider fand ich die ganze junge Häckelei erkältet und zwar alle am Hals leidend. Die Leutchen nehmen sich aber in der gefährlichen Gebirgsluft auch viel zu wenig in Acht. Jedoch geht es jetzt, Gott sei Dank, wieder besser, und das allerliebste kleine Karlchen ist heute zum ersten mal wieder ausgewesen. Welche ungeheure Freude ich über mein liebes, prächtiges Pathchen hatte, und noch stündlich habe, kann ich euch gar nicht mit Worten sagen, annähernd könnt ihr es euch denken! Auch im Übrigen vergeht mir die Zeit hier äußerst freudvoll und angenehm. Bei dem prachtvollen Frühlingswetter genieße ich die lieben Wälder und Berge mit ihren Moosen und andren Pflänzchen nach Herzenslust. Früh microscopire ich meist und lese Tschudis Alpenwelt, Lehmanns Chemie etc, alles nach Lust und Liebe. Auch habe ich schon mehrere größere Parthien gemacht. Am 9ten begleitete ich Karl auf einen Localtermin in Liebschütz, wo ich den ganzen Tag in den verschiedenen Thälern und Schluchten, namentlich in dem „Grund der Gründe“, den romantischen Ottergrund, herumbummelte. Gestern, am Palmsonntag war ich mit Karl in Ranis, in einem Nachmittag zu Fuß hin und zurück. Karl wollte mit Lindig über unsren so schmachvoll verlornen Proceß conferiren. ||

Heute früh fuhr ich mit dem Doctor in seinem Wagen wiederum nach Ranis, um die höchst interessante Section einer alten Bauerfrau zu machen. Noch nie hatte ich eine so furchtbare Zerstörung der edelsten Organe gesehen. Die ganzen Eingeweide, sowie das ganze Bauchfell mit allen Bändern und Falten war in schwarzen Brand übergegangen. Die ganze rechte Hälfte der Bauchhöhle füllte eine ungeheure Geschwulst (carcinoma uteri etc) aus, dabei Wassersucht etc. Kurz es war eine ganz schreckliche Entartung, wie sie wohl selten vorkömmt. Als wir erst halb fertig waren, wurde der Doctor zu einer schweren Geburt in Ranis abgerufen und ich machte noch die Section allein fertig. Um 3 Uhr bummelte ich beim herrlichsten Wetter ganz allein zu Fuß wieder herüber, und zwar durch die Sornitz. Ich denke noch 8 Tage hier zu bleiben, am 19ten in Merseburg (wo ich, da Osterwalds verreist sind, bei Karos logiren werde) und am 23sten oder 24sten April in Berlin einzutreffen. Wie ungeheuer ich mich freue, wieder bei euch sein zu sollen, kann ich euch gar nicht sagen! Auch darüber, daß ich nun noch mit meinem lieben Freunde Hein noch zusammen bleibe, freue ich mich schon. Er kömmt am 30sten April nach Berlin und ich habe ihn eingeladen, die erste Nacht bei mir zu logiren; das ist euch doch recht?h Dabei fällt mir noch 1 Bitte ein. Bitte, schickt doch recht bald nach einem deutschen Lectionscatalog vom nächsten Sommersemester (bei Pedell parterre in der Universität zu haben) nach Würzburg unter Kreuzband und unter der Adresse: Herrn stud. med. R. Hein. Würzburg beim Wundarzt Dehler. –

Nun lebt recht wohl, liebe Alten, bleibt so munter wie ich und freut euch ebenso sehr auf unser Wiedersehn wie euer alter treuer Ernst. –

Die Moose und andern Pflanzen im Kistchen hebt sorgfältig auf!!i

a eingef.: ich; b gestr.: ka; c eingef.: N 4; d gestr.: gez.; e eingef.: mit Büchern; f gestr.: man; g gestr.: durch die; h gestr.: dafür; i Text weiter auf S. 1 oben: Die Moose … sorgfältig auf!!

Brief Metadaten

ID
37497
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Preußische Provinz Sachsen
Datierung
10.04.1854
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
6
Umfang Blätter
3
Format
17,5 x 21,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 37497
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte; Ziegenrück; 10.04.1854; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_37497