Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Würzburg, 26./27. Oktober 1853
Würzburg 26/10 53.
Liebste Ältern!
Obwohl ich eigentlich Nichts Neues oder Wichtiges habe, daß ich euch schreiben könnte, kann ich doch nicht umhin, mich hinzusetzen, um an euch nicht bloß zu denken, sondern auch zu schreiben. Es ist heute der erste Tag, den ich wieder hier in meiner trüben Klause verlebe, und er kömmt mir recht nüchtern und traurig vor. Es will mir noch gar nicht wieder in den Sinn, daß ich jetzt, nachdem ich so schöne, sorglose und freudenvolle Zeit mit Euch Lieben verlebt habe, wieder ganz allein und getrennt von euch sein muß. Es waren doch schöne, schöne Tage, die ich erst mir Dir, liebste Mutter, in a Rheme und dann mit Allen meinen Lieben in dem einzigen Ziegenrück zubrachte. Wie kahl und dürftig erscheint mir dagegen mein hiesiger Aufenthalt! Nun, ich denke, es soll schon besser werden, wenn nur erst die ordentliche regelmäßige Thätigkeit wieder anfängt. Dies ist leider erst in 8 Tagen der Fall da die Herrn Professoren diesmal noch länger, als sonst, zu bummeln belieben. Ich werde diese Woche damit zubringen, b mich wieder in die Präparirübungen einzugewöhnen, und dann meine sämmtlichen Pflanzenstöße in ihr Winterquartier zu verpacken, sowie auch mich selbst in mein neues Quartier überzusiedeln. Von meinen Bekannten ist noch Niemand wieder da, außer Hein, den ich heute besucht habe. Mehrere kommen auch nicht wieder. Die letzten Wochen in Ziegenrück haben wir noch recht nett und glücklich zusammen verlebt. Ich bin lange nicht so vergnügt gewesen. ||
Es ist doch herrlich, daß mein lieber Bruder seinen Hausstand so glücklich und zufrieden gegründet hat. Ich freue mich darüber, wie über mein eignes Glück. Gott gebe, daß alles so fort geht. Das einzige Schlimme ist nur, daß Karl so sehr Viel zu thun hat. Grade in der letzten Woche wurde ihm die Masse der Arbeit sehr drückend und deßhalb freute ich mich so über das Stolbergsche Anerbieten. Da das aber eine so sehr abhängige Stellung sein würde, ist es doch besser, er harrt noch eine Zeit lang in Ziegenrück aus. Die Arbeitslast wird sich ja auch mit der Zeit vermindern. Die Gegend ist aber doch gar zu schön. Mir ging es grade wie euch. Alle Gegenden mit Bergen, durch die ich reiste, kamen mir so klein und niedrig gegen jene Höhen vor. Das herrliche Herbstwetter habe ich c auch noch recht benutzt. Die tägliche Bewegung im Freien hat meinem Körper sehr wohl gethan. Auch zur Reise hatte ich noch recht schönes Wetter.
Ich fuhr d vorgestern (24, an Karls Hochzeitstag, wo er grade den ganzen Tag unten Sitzung hatte) Mittag von Ziegenrück ab, mit dem Wagen des Rath Voigt aus Gefell, wo ich Abends um 7 ankam. Ich besuchte erst den dortigen Apotheker, Warnekros, einen sehr netten und gebildeten jungen Mann, an den mir der Doctor einen Brief mitgegeben hatte. Dann ging ich auch zur Frau Rath Voigt, welche mich ganz schrecklich freundlich aufnahm und verpflegte, auch partout wollte, daß ich zu Bette gehen sollte, was ich natürlich nicht annahm, da die Post um 1 weiter ging. Ich verdämmerte die Nacht sehr gemüthlich in der warmen Stube (während es draußen fror) bei einer hellen Lampe und einem werthvollen || botanischen Werk (Krombholtz Abbildungen der Schwämme und Reichenbachs Abbildungen der deutschen Gräser) das mir der Apotheker geliehen hatte. Früh um 4 kam ich in Hof an, von wo der Zug um 6 abging. Die ganze Reise verlief ohne weitere Merkwürdigkeiten, ausgenommen daß ich zu derselben Strecke zu der ich zu Ostern 2 Tage und 3 Nächte gebraucht, jetzt nur 1½ Tage nöthig hatte. Ich war bereits um 11 in Bamberg, um 1 in Schweinfurt und Nachmittags um 6 Uhr hier. Meine Wirthin empfing [mich] natürlich mit aller Zärtlichkeit und Freude, die ihrer e echt bairischen gemüthlichen Gutmüthigkeit zu Gebote stand. Sie hatte schon seit 14 Tagen jeden Tag mich erwartet, mir schönes Obst gekauft und unter anderm alle Schränke etc. mit den üppigsten Äpfeln und Weintrauben garnirt, die ich mir nebst herrlichen Pflaumen heute bereits trefflich habe schmecken lassen. Das Obst ist hier ganz ausgezeichnet, wie alle Jahre und ich will es f recht genießen. Wie schade, daß Ihr es nicht mit genießen könnt; es würde mir dann noch einmal so delicat schmecken. Ich schickte euch gar zu gerne ein Kistchen mit Weintrauben, wenn nur nicht das Porto so excessiv theuer wär; auch würden sie wohl etwas zu sehr durch einander gerüttelt werden. Eins der ersten Worte meiner Wirthin war: O, Herr Doctor, über Ihre Kinderle werden Sie sich recht freua! Es ergab sich daß sie darunter meine Laubfroschfamilie verstand, deren Mitglieder von ½" Länge auch wirklich zu recht stattlichen Burschen von 1–1½" herangewachsen und eine den ganzen Tag tönende helle Stimme erhalten hatten. Dafür hatten sie aber auch täglich Fliegen bekommen, die apart für sie en gros vom Bäcker geholt wurden! ||
27/10. Gestern Abend war ich zu todtmüde, um den Brief zu Ende zu bringen. Auch dachte ich es wäre netter, wenn ich ihn Freitag früh fortschickte, wo er euch dann Sonntag früh einen freundlichen Sonntagsgruß von eurem Jungen bringen könnte. Mein gestriger moralischer Katzenjammer hat schon heute einige Linderung erfahren, wovon zum Theil die heute gemachten Antrittsvisiten g Ursache sind. Es waren deren nicht weniger als 5, und zwar: 1) bei Hr. Professor Schenk, der mich wider Erwarten sehr freundschaftlich und wohlwollend empfing; 2) bei H. Professor Kölliker 3) bei H. Professor Müller (einem jungen, sehr schüchternen, aber tüchtigen extraordinarius, der zusammen mit Kölliker das Kränzchen dirigirt) 4) bei H. Dr. Gsell-Fels, einem sehr reichen jungen Schweizer, Dr. philos, der jetzt Medicin studirt, verheirathet und Büchernarr in einer Extension ist, wie ich sie noch nie gesehen. Alle neusten und kostbarsten Werke muß er gleich haben. Ich suche mir auch sein Wohlwollen möglichst warm zu halten, um seine excellente Bibliothek h benutzen zu können, die er mir ganz zur Disposition gestellt hat. 5) bei H. Dr. Leydig, einem sehr talentvollen, i tüchtigen, netten und liebenswürdigen jungen Privatdocenten, der sich fast nur mit microscopischen Beobachtungen, namentlich der Gewebelehre und Entwicklung der Thiere, namentlich Salamander, beschäftigt. || Mit diesem Dr. Leydig stehe ich auf einem sehr freundschaftlichen Fuße, was wohl daran liegen mag, daß unsere Naturen manch verwandte Seiten zeigen; auch haben wir uns schon mehreremal unser Herz (nämlich das naturwissenschaftliche) ausgeschüttet. So ist er z. B. (trotzdem er in seinem Fach ein sehr tüchtiger und geschickter Beobachter ist) in seinem Äußern, namentlich hinsichtlich seines Umgangs mit Menschen, ziemlich unbeholfen und nicht selten so täppisch fast, wie ich, (woran auch wohl die überlangen Knochen seiner Extremitäten Schuld sein mögen); ferner zeigt er gegenüber einer ungeheuren Liebe und Hingebung zur reinen Naturwissenschaft, namentlich der Anatomie und Physiologie, einen eben so großen Abscheu gegen die Medicin überhaupt, vor allem aber gegen die ärztliche Praxis (er ist übrigens auch Dr med). Ferner liebt er ebenso wenigj wie ich den trouble und die Faxen der civilisirten Menschheit, ist am seligsten bei seinen Beestern und seinem Microscop, ist auch hypochondrisch, etc etc etc. So schimpfte er z. B. heute, wo ich ihn unwohl antraf, sehr über die Charlatanerie der Medicin, die andern Leuten zu helfen verspreche, aber sich selbst nicht einmal helfen könne. Er ist der Sohn ganz armer Eltern und hat sich aus den dürftigsten Verhältnissen so tüchtig herausgearbeitet; er war so arm, daß er während seiner Studienzeit ein ganzes Jahr nur von Brod hat leben müssen. In Folge dessen ist auch seine Stellung sehr abhängig; um nur nicht zu verhungern, muß er vor mehrern Professoren, die nicht halb so tüchtig, als er, sind, ergebene Kratzfüße machen und mühvolle Arbeiten für sie ausführen. Auch Kölliker (der überhaupt in vieler Beziehung der höhere Egoist ist,) || gebraucht ihn auf eine sehr egoistische und unnoble Art zu seinen Arbeiten, k läßt z. B. von ihm „unter seiner Leitung“ einen microscopischen Cours halten, zu dem Kölliker seinen Namen hergiebt, und dafür das Geld zu 4/5 einnimmt, und verhindert deßhalb auf alle Weise, daß er Professor wird. Auch heute klagte er mir wieder sein Leid, und wie sehr abhängig doch die Stellung eines armen Privatdocenten sei. Als ich ihn heute verließ, schenkte er mir 2 von seinen kleineren neuesten Abhandlungen, über die Anatomie und Histologie eines Fisches (Polypterus bichir) und einer Blattlaus (Coccus hesperidum), wie er mir auch schon vor meiner Abreise die Beschreibung eines von ihm neu entdeckten niedlichen Schmarotzerkrebses (Doridicola agilis) geschenkt hatte. Ich denke, mit diesem netten Mann noch recht bekannt zu werden und viel von ihm zu lernen. – Mit Verpackung und Einwicklung meiner gesammelten Herbarschätze, von diesem Sommer bin ich heute fertig geworden. Es sind mindestens ebensoviel Pflanzen, wie ich in Berlin habe, und füllen eine ganze, große Kiste aus (O Wonne!). Dazu kommt noch eine sehr nette und reichhaltige Sammlung zierlicher Riesengebirgspflänzchen von Ernst Weiss, die ich noch in Ziegenrück erhielt, aber leider wegen Mangel an Platzes (alle Ecken waren vollgepfropft und der Koffer wog allein 80 Pf) nicht mitnehmen konnte. Du, liebe Mutter bist nun wohl so gut, dies Paket von Ziegenrück mit nach Berlin zu nehmen, und es recht sorgfältig zu dem andern Heu in | den blauen Schrank zu verpacken. Für die Sendung der Bücher und Hosen von Berlin habt den besten Dank. Die grauen inexpressibles sind ganz nach meinem Geschmack, nur zu fein. –
Hat denn Tante Bertha zu ihrem Geburtstag unsere Briefe erhalten; wie habt ihr ihn gefeiert, und wie geht es der ärmsten, lieben Tante? Ich habe so viel an sie denken müssen. Grüßt sie recht herzlich, sowie auch Großvater, Cousine Bertha und die andern Freunde, auch Weissens, Quinkes etc.
Theodor ist nun auch wohl wieder eingetroffen; was sind denn für speciellere Nachrichten von Philipp da? Ist denn die „allveröhrte, jelübte“ Tante G+++ wieder eingetroffen? sie hat gewiß viel Merkwürdiges zu erzählen!
Da fällt mir eben ein, daß ich euch noch von der Feier des Geburtsfestes unseres theuren wahren Landesvaters in der Kreisstadt Ziegenrück berichten wollte. Eigentlich ists nun zu spät. Mit kurzen Worten bestand diese darin, daß Nachmittags die Ziegenrücker Schuljugend unter Anführung des Rectors, auf das Külmlaer Kreuz, die l Bergspitze, Karls Arbeitszimmer gegenüber, wallfahrtete und von dort „Heil Dir im Siegerkranz!!“ in das Thal hinab, über die friedliche Stadt ertönen ließ. Darauf wurden von 5–7 Uhr 12 Kanonenschüsse vom Schloßberg gelöst, welche ein famöses Echo im Trebengrund hervorlockten und schließlich vereinten sich die sämmtlichen Honoratioren (wozu ich als Ehrenmitglied gehörte) und Nicht Honorationen des [Ortes in]m dem auf + 30° R erhitzten Rathaussaal zu einem eben so n dürftigen, als langstieligen Festessen, o an welchem Karl (durch Landwehruniform den obersten Platz einnehmend und alle Blicke auf sich ziehend) zwar keinen Toast ausbrachte, aber für die Invaliden des Kreises von anno 13–15 sammelte. ||
Die meisten, aber ziemlich ungehobelten Späße, brachte noch der zu Ehren Sr. Majestät total betrunkene Kantor hervor, welcher zu seiner Geige „sang manch Lied, das Stein erweichen etc“. So sang er z. B. viele Geschichten von den „Grünern“, den Bewohnern von Liebengrün, einer ganz eigenthümlich altwendischen Ortschaft, die als Schilda oder Schöppenstädt für den Ziegenrücker Kreis gilt. Eine dieser zum Theil höchst komischen Geschichten war z. B. die „Bürgermeisterswahl“, die angesehensten p Männer des Orts legen sich mit ihren Köpfen und Bärten rund um und auf einen Tisch, in dessen Mitte q ein kleines, weißes, krabbelndes Insect, pediculus hominis genannt, gesetzt wird. In wessen Bart dieselbe dann kriecht, der wird Bürgermeister!!! –
Meine Wenigkeit hatte sich übrigens zu Ehren Sr. Majestät in Karls alten schwarzen Frack und inexpressibles geworfen, die mir fast bis auf die Knöchel, wie auch die Ärmel des Fracks, noch über den Ellbogen herabreichten. Es ist doch hübsch, wenn man seine schwarzen Galla-Sachen mit hat!! Nicht wahr, liebe Mutter? –
Heute habe ich bei den Visiten wirklich wieder in meinen paradirt, auch dazu 2 Handschuhe von verschiedenen Paaren (da r sich die zusammen gehörigen nicht finden wollten) angezogen, sowie einen noblen alten grauen Hut aufgesetzt! –
– Ehe Du abreist, liebe Mutter, erkundigst Du Dich wohl bei Hrn. Schieck, den Du auch schön [grüßen]s kannst, mit wast ich das Microscop (welches, sowie auch das [Glas mit den]u eingemachten Salamandern ganz wohl erhalten, hier angekommen sind) putzen und schmieren soll. Es macht hier großen Effect, und ich werde darüber immer glücklicher. –
Den nächsten Brief erhältst Du, liebe Mutter, wohl schon in Ziegenrück. Vorher will ich nicht an das liebe Ziegenrücker Pärchen schreiben. Grüße sie inzwischen herzlich von mir und sage ihnen meinen schönsten brüderlichsten Dank für ihre Briefe!v –
Karl wünscht noch ein Dutzend Bleistifte: „Regensburg No 9, Mittelweich“ besorgt zu haben, von Bormann unter der Stechbahn. Mutter bringt sie ihm wohl mit.w
Morgen fängt das Seciren wieder an, wovor ich doch wieder ein heimliches Grauen habe!x
Mit den herzlichsten Grüßen und Küssen euer treuer alter Ernst H.y
Meine neue Wohnung, die ich Montag beziehe, ist: Distr. II, No: 137.z
a gestr.: Bad; b gestr.: die S; c gestr.: d; d gestr.: ge; e gestr.: b; f gestr.: g; g gestr.: Schuld; h gestr.: zu; i gestr.: und li; j eingef.: wenig; k gestr.: und; l gestr.: Sp; m Papierausriss, Text sinngemäß ergänzt; n gestr.: f; o gestr.: wo; p gestr.: Menschen; q gestr.: ,; r gestr.: d; s Papierausriss, Text nicht rekonstruierbar; t gestr.: wie; eingef.: mit was; u Papierausriss, Text sinngemäß ergänzt; v Satz am linken Rand von S. 8; w Satz am linken Rand von S. 4; x Satz am linken Rand von S. 6; y Satz am linken Rand von S. 7; z Satz am linken Rand von S. 5